Zum 85. Geburtstag: Ein „Kirche+Leben“-Interview aus dem Jahr 2016

Halbfas wirft Bischöfen Untätigkeit in der Kirchen-Krise vor

Am Mittwoch, 12. Juli, wird der Theologe und Religionspädagoge Hubertus Halbfas 85 Jahre alt. Im Juli 2016 hat er der Wochenzeitung „Kirche+Leben“ ein viel beachtetes Interview gegeben, das wir zu seinem Geburtstag erneut veröffentlichen.

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Am Mittwoch, 12. Juli, wird der Theologe und Religionspädagoge Hubertus Halbfas 85 Jahre alt. Im Juli 2016 hat er der Wochenzeitung „Kirche+Leben“ ein viel beachtetes Interview gegeben, das wir zu seinem Geburtstag erneut veröffentlichen.

Kirche+Leben: Der Regens des Münsteraner Priesterseminars, Hartmut Niehues, sagte im Frühjahr in Kirche+Leben: „Das System Kirche ist zu Ende!“ Kommt diese Erkenntnis nicht zu spät?

Hubertus Halbfas: Seit Jahrzehnten werden die Nachwuchszahlen für Priester und Ordensleute veröffentlicht. Kontinuierlich ist die Zahl der Kandidaten zurückgegangen. Es gibt seit Generationen Hinweise auf den kirchlichen Geltungsverlust. Für mich ist es unbegreiflich, dass diejenigen, die Verantwortung in der Kirche und für diese Kirche übernommen haben, nicht problemsichtig, nicht erschreckt, nicht handlungsbereit, nicht öffentlich reagiert haben – und immer noch schweigen.

Dieser Weckruf des Regens hat vor allem in den kirchlichen Medien einen großen Nachhall hervorgerufen…

Ich kann nachvollziehen, dass die Öffentlichkeit die Warnung eines Regens, der ein Priesterseminar leitet, ernst nimmt. Nicht verstehen kann ich, dass so getan wird, als sei diese Situation neu. Die Zahlen liegen schon lange auf dem Tisch. Man kann ihre Konsequenzen für die nächsten Jahrzehnte hochrechnen. Es steht außer Frage, wohin die Reise geht. Wenn diese Entwicklung nur deshalb ernst genommen wird, weil sie von einem Regens kommt, beschreibt das auf erschreckende Weise die Lethargie und Verantwortungslosigkeit in den Leitungsgremien der Kirche.

Hätten die Bischöfe schon viel früher auf diese Veränderungen in der Kirche aufmerksam machen müssen?

Die Bischöfe hätten aufschreien, prophetisch auftreten müssen! Das wäre ihr Amt! Aber niemand wagt sich vor.

Sie haben in Ihrem Buch „Glaubensverlust“ schon vor 2011 von einer handfesten Krise der Kirche gesprochen. Fundamentale Glaubenskrise und Verdunstung des Glaubens, Neuinterpretation des Glaubens waren wesentliche Stichworte. Inwieweit gibt es Parallelen zwischen Ihren Äußerungen damals und denen des Regens heute?

Die Kernfrage lautet doch: Was sind die Ursachen dafür, dass die Bewerbungen für den Priesterberuf in einem solchen Ausmaß abebben? Bereits Anfang der 1960-er Jahre, lange vor den wilden 68ern, habe ich in meiner Dissertation die These vertreten, dass die Kirche die Jugend nicht mehr erreicht. Das hat unterschiedliche Gründe, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Der wesentlichste Grund scheint mir, dass die Kirche ihre Glaubenstradition in den letzten 250 Jahren nicht mehr reflektiert und korrigiert.

Zum Beispiel?

Unter der Leitung von Kardinal Joseph Ratzinger wurde ein Weltkatechismus geschrieben, den der Weltepiskopat billigt. Dieser Weltkatechismus enthält eine Theologie, die Problemstellungen ausblendet, die dem System nicht gefallen. Ganz vorne die Jungfräulichkeit Mariens. Oder die Fragen nach der Erbsünde und die damit zusammenhängende Deutung des Kreuzestodes Jesu als Erlösungstod Jesu, wie Paulus ihn versteht. Wenn sich Gott erst durch einen blutigen Opfertod mit der schuldbeladenen Menschheit versöhnen ließ, geht das zu Lasten dieses Gottesbildes. Hier steht die Position Jesu gegen die des Apostels Paulus. Jesus sprach in allem vom Reich Gottes, die Theologie des Paulus ist ohne Reich-Gottes-Programm. Es ist der Wechsel von der nicht bestreitbaren Wahrheit eines gelebten Lebens zu der stets bestreitbaren Wahrheit eines theologischen Lehrsystems.

Diese Begriffe sind so beschrieben, dass niemand sie versteht?

Niemand versteht meine historische Lehrbegrifflichkeit, wenn sie nicht übersetzt wird. Mehr noch: Niemand interessiert sich dafür. Die Rede von der Erbsünde hat den Kirchenvater Augustinus unter den Bedingungen seiner Zeit beschäftigt. Doch wer kann heute noch glaubwürdig von der Erbsünde sprechen, für die es im evolutionären Denken nicht den geringsten Ansatz gibt?

Für 39 Prozent der Jugendlichen spielt der Gottesbezug laut Shell-Studie in ihrem Leben keine Rolle mehr. Ist die Sprachlosigkeit nicht ein wesentlicher Grund dafür, dass die Kirche die Jugend verliert?

Sie hat sie bereits verloren. Der Traditionsbruch hat sich vollzogen. Die meisten Frauen und Männer unter 40 bis 45 Jahren leben ohne Anschluss an die Glaubenstradition. Auch gibt es in den christlichen Kirchen im Großen und Ganzen niemanden mehr, der die theologische Kompetenz und Sprachfähigkeit besitzt, um mit dieser Generation noch einmal ins Gespräch zu kommen, sodass die Menschen aufhorchen. Die Theologen schreiben ihre wissenschaftlichen Arbeiten überwiegend für sich selbst.

Gibt es eine Chance, das Ruder noch einmal herumzureißen?

Bis zu den 1950er Jahren war das kirchliche Leben traditionsorientiert; es forderte kein eigenständiges Denken. Heute ist fast alles Folklore, ohne Wurzeln. Aber die Gesellschaft ist im Gegensatz zu früher wacher geworden. Sie ist durchaus auf der Suche nach spirituellen und religiösen Inhalten. Die Menschen sind nicht flacher geworden. In Sachen Religion wollen sie nachvollziehbare Antworten. Wenn auf ihre Fragen nur formelhafte Rhetorik antwortet, geben sie es auf.

Das spiegeln die Studien wider, die sagen, dass die meisten Menschen auf der Suche nach Spiritualität und Religiosität sind, aber von den Kirchen keine Antworten bekommen. Welche Themen müsste die Kirche aufgreifen?

Es geht nicht um Themen. Zunächst müsste eine andere Wahrhaftigkeit gelebt werden. Im kirchlichen Glaubensgefüge herrscht keine Wahrhaftigkeit. Soweit heutige Theologen die Systemproblematik dogmatischer Rede durchschauen, sagen sie doch nicht, was sie wirklich denken und wonach sie leben. Wenn sie das tun würden, bekämen sie Schwierigkeiten. Sie wollen sich aber keine Läuse in den Pelz setzen und keinesfalls mit römischen Kontrollinstanzen in Berührung kommen. Auch die Bischöfe sagen nur, was sie innerhalb des Systems sagen müssen und sagen dürfen. Darauf sind sie vereidigt worden.

Aber gerade die Bischöfe müssten doch aufschreien?

Sie schreien nicht! Schon bei Jesaja (56,10) heißt es: „Die Wächter des Volkes sind blind, sie merken allesamt nichts. Es sind lauter stumme Hunde, sie können nicht bellen.“

Verweigern sich die Bischöfe aus Angst vor den Konsequenzen?

Es bleibt ja nicht nur der Priesternachwuchs aus. Es ist gleichzeitig auch ein Abfall der geistigen Fähigkeiten und Begabungen zu verzeichnen. Darauf haben in den 1960er Jahren schon einige Theologen aufmerksam gemacht. Sie sagten: „Wenn schon ein einfacher Untergebener Recht und Pflicht hat, sich zu fragen, ob er den ihm Übergeordneten nicht in wichtigen Dingen ungefragt Bedenken und Warnungen vortragen könne und müsse, um wieviel mehr gilt dies auch für die Bischöfe in der katholischen Kirche, auch gegenüber dem Papst?“ Zugleich machten sie bereits vor Jahrzehnten darauf aufmerksam, dass der Theologennachwuchs nicht mehr aus der vollen Breite der gesellschaftlichen Fähigkeiten und Begabungen komme. Darunter leidet auch der Bischofsnachwuchs. Verschärfend kommen durch das Wirken der Nuntiaturen nur diejenigen zum Zuge, die absolute Systemkonformität versprechen.

Nach wie vor spielen die Laien im Allgemeinen und die Frauen im Besonderen keine leitende Rolle in der Kirche.

Die verschiedenen Ebenen der Kirchen – von den Ortskirchen bis nach Rom – haben ein internes Milieu entwickelt, das sich gegenüber der säkularen Außenwelt ausschließt, ja abkapselt, sodass man die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr in ihrer vollen Breite wahrnimmt. Genau das ist notwendig, um zeitgemäß zu sein. Wenn man sich anschaut, wie die Literatur seit der Aufklärung Religion, Kirche und das menschliche Leben verarbeitet, kann man Spuren verfolgen, die das, was wir heute als Problem empfinden, weit früher artikuliert haben.

Zum Beispiel?

Nun, zunächst sind da die religionskritischen Philosophen, die man auf den Index setzte, damit sich keiner mit ihnen befasse. Oder lesen Sie „Der grüne Heinrich“ von Gottfried Keller. Sein Entschluss, mit der Konfirmation von der Kirche Abschied zu nehmen, ist heute zur Regel geworden. Er entspricht einer Mentalität, von der man sagen möchte, sie sei jetzt auch im Münsterland angekommen.

Gäbe es noch eine Chance, das Schiff Kirche zu retten?

Bischöfe und Pfarrer müssten Menschen, die nicht im Kirchenmilieu beheimatet sind, bitten: Redet mit uns. Sagt, was ihr denkt und empfindet. Wo liegen eure Vorbehalte und Probleme? Wie können wir sie aufnehmen? – Gefordert ist eine andere Offenheit. Solange Theologen und Religionspädagogen Bücher in systemimmanenter Konformität schreiben und drängende Probleme nicht einmal mehr ansprechen, sehe ich keine Chance. Wenn man nicht offen in dieser Gesellschaft lebt und Probleme wie den stattfindenden Glaubensverlust, die Gründe für den ausbleibenden Priesternachwuchs und fehlende Glaubwürdigkeit wurzeltief bearbeitet, gibt es keine Rettung. Die Kirche ist ein hierarchisches und damit autoritäres System. In einem solchen System hat Wahrhaftigkeit keine guten Wachstumsbedingungen.

Worin liegen die Gründe für eine solche Entwicklung?

Ich sagte schon, es gibt viele. Am besten wäre, beim historischen Jesus von Nazareth anzufangen. Aufgrund der historisch-kritischen Forschung haben wir erkannt: Die Lehre Jesu konzentriert sich in seinem Reich-Gottes-Verständnis. Schon Nietzsche sah hier sehr klar: „Dieser ›frohe Botschafter starb, wie er lebte, wie er lehrte – nicht um die Menschen zu erlösen, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.“ Nietzsche erfasste, dass Jesus nicht einen „Glauben“ im Sinne eines Lehrsystems, sondern eine Lebensweise einforderte. Paulus hat diesen originären Jesus nicht mehr kennen gelernt. Er wollte von ihm „dem Fleische nach“ auch nichts wissen. Er hat aus der Reich-Gottes-Botschaft eine Erlösungslehre gemacht – ohne das jesuanische Programm. Das Evangelium Jesu zielt auf weltliche Werte, auf soziale Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, die Würde der Frau, Ehrfurcht vor dem Leben, sündig oder nicht… Auch wenn die christlichen Kirchen überwiegend mit sich selbst beschäftigt sind, die von den Propheten Israels und dem Reich-Gottes-Programm Jesu angestoßene Bewegung bleibt Salz der Erde und Licht der Welt.

Steht nicht der Mensch im Mittelpunkt?

Dieser Anstoß ist nicht an die Kirche gebunden. Er geht von prophetischen und dienenden Menschen aus. Die Heiligen des „Reiches Gottes“ werden nicht in kirchlichen Kalendern geführt. Ihr Handeln und ihr Wort kündet Gott in der Wirklichkeit der Welt. Man muss nur wissen, welche Wirklichkeit „Gott“ meint. In dieser Hinsicht gibt es auch keine Krise des Glaubens. Die Krise des Glaubens resultiert aus Gründen, welche die Kirche mit ihrer eigenen Dogmatik geschaffen hat. Die Botschaft Jesu geht über den kirchlichen Rahmen hinaus. Sie ist kein Eigentum der Kirche.

Hubertus Halbfas war von 1967 bis 1987 Professor für katholische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Reutlingen. Über Jahrzehnte hat er der Religionspädagogik Impulse gegeben und wurde als Theologe über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt. 1957 wurde Halbfas zum Priester geweiht. Bis 1960 war er Vikar in Brakel im Kreis Höxter. Anschließend war er bis 1967 Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Paderborn. 1964 promovierte er an der Münchener Universität über das Verhältnis von Jugend und Kirche. Mit seinem Buch „Der Religionsunterricht“ machte er auf die Missverhältnisse zwischen dogmatischer Theologie und einer nicht ebenso vermittelten historisch-kritischen Bibelkenntnis aufmerksam. Eine intensive Debatte folgte 1968 seinem Buch „Fundamentalkatechetik. Sprache und Erfahrung im Religionsunterricht“.

Wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Auslegung biblischer Wunderbegriffe widersprach der Kölner Kardinal Josef Frings seiner Berufung von Reutlingen nach Bonn. Die Deutsche Bischofskonferenz entzog ihm wenig später die kirchliche Lehramtserlaubnis, um „Grenzen abzustecken, die in diesem Buch überschritten sind“, wie es in der Begründung hieß. Halbfas stellte daraufhin einen Antrag auf Laisierung, der vom Papst sofort angenommen wurde. Ab den 1980er Jahren gab der Theologe neue Impulse zur Neuordnung der Religionsdidaktik, die unter dem Stichwort „Symboldidaktik“ bekannt wurden.

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