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Kritiker und Verehrer kämpfen gleichermaßen um die Deutungshoheit über das Pontifikat Benedikts XVI. Doch erst mit Abstand ist ein valides Urteil möglich, erklärt Kirchenrechtler Thomas Schüller in seinem Gast-Kommentar.
Was ist Wahrheit? Die Frage des Pilatus zielt mitten hinein in den Kampf um die Deutungshoheit über das Vermächtnis Joseph Ratzingers. Seinen Verehrern kann es gar nicht schnell genug gehen mit der Heiligsprechung des verstorbenen „Papa emeritus“. Für die Kritiker dagegen ist das Sündenregister des deutschen Gelehrten und Kirchenführers so groß, dass sie ihn – mindestens – auf unbestimmte Zeit im Fegefeuer wähnen.
Kaum ist Benedikt XVI. tot, da bringt Ex-Papstsekretär Georg Gänswein als Treuester der Ratzinger-Getreuen schon ein Buch heraus, das seinen Heiligen Vater gegen alle Kritik immunisieren und post mortem die Legende nicht nur eines unfehlbaren Papstes, sondern auch eines makellosen Menschen fortschreiben soll. Der Verlag Herder lässt einen Sammelband mit Ratzingers wichtigsten theologischen Texten folgen. Kitsch und Kommerz liegen augenscheinlich nah beieinander.
Erfolge und Fehler Benedikts XVI. erst später sichtbar
Der Autor
Thomas Schüller ist Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Im erbitterten Lagerkampf zwischen Benedettisten und Anti-Ratzingerianern ist es ganz gut zu wissen, dass laut Kirchenrecht einerseits ein Seligsprechungsprozess frühestens in fünf Jahren beginnen könnte, andererseits die Akten über einen verstorbenen Papst erst nach Ablauf von 60 Jahren für die wissenschaftliche Aufarbeitung verfügbar sind. Bis dahin stehen alle Einordnungen – so seriös sie auch sein mögen – unter dem Vorbehalt begrenzter Quellenkenntnis.
In 60 Jahren können sich die Gemüter in den polarisierten Blasen des Katholizismus beruhigen, und in der abgeklärten Ruhe des Abstands zu einem Pontifikat werden Erfolge und Fehler der päpstlichen Amtsführung gleichermaßen besser erkennbar werden. Das gilt heute besonders für das Thema Missbrauch und dessen Aufarbeitung. Mit dem Wissen von heute würde auch Papst Johannes Paul II. wohl nicht mehr heiliggesprochen werden, der nachweislich den Schrei der Opfer überhört und die Täter geschützt hat.
Macht korrumpiert Integrität von Menschen
Bei allem gilt, rechtlich gesprochen, „audiatur altera pars“: Man höre vor einem Urteil immer auch die andere Seite. Ins Historiografische übersetzt: Erst das Studium aller verfügbaren Akten, gerade auch von Mächtigen in der Kirche, ermöglicht ein valides Urteil.
Vielleicht wäre es aber überhaupt gut, die Heiligsprechung von Päpsten nicht zu einem billigen Automatismus verkommen zu lassen. Nach aller Erfahrung korrumpiert nichts die Integrität eines Menschen so sehr wie die Macht. Dass ausgerechnet Päpste davor gefeit sein sollten, wäre weit mehr als das Wunder, das die Kirche für eine Heiligsprechung verlangt.
In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.