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„Singen, singen, singen!“ Stefanie Oberfeld weiß, wovon sie spricht. Als Oberärztin des Gerontopsychiatrischen Zentrums der Alexianer in Münster ist der Gesang mit den Bewohnern immer fester Bestandteil im Tages- und Wochenrhythmus. Sie kennt die Wirkung: „Menschen mit einer Demenzerkrankung finden Ruhe, Vertrauten, positive Gefühle.“ Auch die Tagesklinik muss wegen der Corona-Pandemie schließen. Die Patienten nehmen ihre Ängste und Sorgen mit nach Hause.
„Musik ist bei Menschen tief verankert“, sagt Oberfeld, die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie ist. „Gerade die Generation, die jetzt ins hohe Alter kommt, hat früher viel gesungen.“ Bei den Erinnerungen, die mit ihnen im Gesang geweckt werden können, geht es nicht um Zahlen oder Fakten, sondern vor allem um Emotionen. Das Gefühl für die Situation, für die Menschen und Hintergründe, die mit einem Lied verbunden sind, schwinden erst spät. „Wenn auch das konkrete Erlebnis nicht mehr wachgerufen werden kann, dann aber noch die Gemütsregung in der damaligen Situation.
Gerade jetzt ein wunderbares Mittel
Das gemeinsame Lied ist in den Augen der Ärztin ein „wunderbares Mittel in der jetzigen Situation“. Wenn die Kontaktmöglichkeiten eingeschränkt sind, kann der Gesang jeden Sicherheitsabstand zur Risikogruppe überwinden. „Am Telefon, viele Meter entfernt vom Bett oder von Balkon zu Balkon.“ Berührungen, Zärtlichkeiten und die direkte Pflege können derzeit eingeschränkt sein – Musik aber kennt keine Beschränkungen. Gerade für Angehörige, die jetzt vermehrt in der Betreuung gefragt sind, weil Versorgungs-Einrichtungen schließen, eine wichtige Möglichkeit, den Tag zu füllen und Lebensqualität zu finden.
Oberfeld beschreibt Untersuchungen, die sich mit Play-Lists für Menschen mit einer Demenzerkrankung beschäftigen. „Darin finden sich jene Lieder wieder, die auf ihren Lebenswegen eine herausragende Rolle gespielt haben.“ Das Wiegenlied etwa, Erlebnisse am Lagerfeuer oder der Tanz mit der ersten großen Liebe. „Es macht Sinn, eine solche Liste gemeinsam mit dem alten Menschen zu einem Zeitpunkt aufzustellen, an dem er sich selbst noch an die Ereignisse erinnern kann.“
Sensible Auswahl
Denn die Auswahl muss sensibel geschehen. Nicht mit jeder Melodie ist ein gutes Gefühl verbunden. „Das Lied aus dem Luftschutzbunker des Zweiten Weltkriegs kann auch Ängste auslösen.“ Die Auseinandersetzung mit der musikalischen Vergangenheit des Patienten ist auch für die Angehörigen spannend. Entscheidende Momente auf dem Lebensweg werden sichtbar.
Es gibt eine Musikgattung, die von Oberfeld als „besonders intensiv“ bezeichnet wird: „das Kirchenlied.“ Denn alte Menschen haben früher nicht nur viel gesungen, ihr kirchliches Leben war auch intensiver. „Oft ist die Erinnerung daran eine, die mit den Gefühlen der Zuversicht, Geborgenheit und Sicherheit verbunden ist.“ Erklingt eine Melodie aus einem Gottesdienst von damals, geht es nicht um theologische Hintergründe oder Bibeltexte. „Es geht dann um eine Gottesbeziehung – um etwas, das ohnehin für jeden Menschen schwer greifbar ist.“ Deshalb spielen die Emotionen in diesem Moment eine besondere Rolle.
Auswahl ist individuell verschieden
Kirchenlieder wirken also doppelt. Sie verbinden die positive Ausstrahlung des Gesangs mit der wohltuenden Spiritualität religiöser Erinnerungen. Wobei Text und Melodie nicht immer Klassiker sein müssen. Was auf die Hitliste kommt, ist individuell verschieden. „'Das Haus voll Glorie' kann da genauso Platz haben wie das 'kleine Senfkorn Hoffnung'“, sagt Oberfeld.
Es gibt eine weitere Wirkung, die gerade für Menschen mit Demenzerkrankungen eine wichtige Rolle spielt. „Musik kann Struktur schaffen.“ Zu Tageszeiten, an bestimmten Wochentagen oder im Jahreskreislauf. Auch das kann sich in der persönlichen Playlist widerspiegeln. „Am Samstagabend können es dann mal die Stones sein, während Sonntagvormittag eher das Gotteslob ein Thema ist“, sagt Oberfeld. Und jetzt, wo das Corona-Virus viele Strukturen und Regeln auszuhebeln scheint? „Vielleicht passt jetzt das Frühlingslied besonders gut.“