Vertreter aus Oldenburger Land üben deutliche Kritik

Hilferuf: Behindertenhilfe prangert pauschale Corona-Regeln an

  • Die Arbeit in der Behindertenhilfe werde bei den Corona-Regeln zu wenig berücksichtigt.
  • Dies kritisieren Vertreter verschiedener Einrichtungen aus dem Oldenburger Land.
  • Es wird unter anderem eine Testpflicht für unter Sechsjährige gefordert.

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Die Arbeit der Behindertenhilfe wurde und wird in der Corona-Zeit deutlich zu wenig gesehen. Diese deutliche Kritik üben Angelika Kürten-Schlarmann (Heimstatt Clemens August, Neuenkirchen-Vörden), Manuela Brinkmann (Sankt-Anna-Stiftung, Dinklage) und Guido Moormann (Andreaswerk, Vechta). Zwar gebe es keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit der Pandemie-Vorgaben. Diese müssten jedoch speziell auf die Eingliederungshilfe zugeschnitten sein, heißt es in einer Mitteilung des Landes-Caritasverbands für Oldenburg.

So werde beispielsweise nicht beachtet, dass eine Einrichtung wie der Heilpädagogische Kindergarten Dinklage von vielen schwerstmehrfachbehinderten Kindern etwa mit Vorerkrankungen an Herz oder Lunge besucht werden. Jungen und Mädchen, die sehr viel und teilweise medizinische Pflege brauchen, erläutert die stellvertretende Leiterin der Sankt-Anna-Stiftung, Manuela Brinkmann. Schwere Krankheiten, die man den Kindern äußerlich oft nicht ansehe.

Bei Verdachtsfällen nimmt Anspannung zu

Manuela Brinkmann. | Foto: Dietmar Kattinger (lcv)
Manuela Brinkmann. | Foto: Dietmar Kattinger (lcv)

Nicht berücksichtigt werde, dass es häufig – wie in Dinklage – neben den 26 Kindern mit schwerem Pflegebedarf rund 90 aus einem regulären Kindergarten gibt. „Die laufen ja auch hier durchs Haus und waren am Abend zuvor beim Sport und, und, und…“ Alle Mitarbeitenden hätten einerseits fast ständig Angst, das Virus selbst zu den vorerkrankten und hoch gefährdeten Kindern zu schleppen und andererseits davor, dass die Kinder sich gegenseitig anstecken.

„Alle Kolleginnen und Kollegen arbeiten ständig unter Strom“, so die Heilpädagogin Brinkmann. Bei Verdachtsfällen nehme die Anspannung nochmals zu. Eine weitere Klage: Testmaterial vom Land für die Mitarbeitenden erhielten Einrichtungen der Behindertenhilfe immer viel später als die Altenpflege, die es in Dinklage beim gleichen Träger gibt.

Ein weiteres Problem: „Für uns sehr schwierig zu prüfen, ob die Kinder von den Eltern getestet wurden“, klagt die Heilpädagogin. Eine Test-Verpflichtung für unter Sechsjährige gibt es nicht. Ihre Forderung: „Eltern sollten verpflichtet werden, dass die Kinder nur getestet in eine Kita kommen dürfen.“ Das würde uns auch ein Stück der Anspannung nehmen.

Eigene Lösungen für Behindertenhilfe nötig

Angelika Kürten-Schlarmann. | Foto: Dietmar Kattinger (lcv)
Angelika Kürten-Schlarmann. | Foto: Dietmar Kattinger (lcv)

Lösungen eigens für die Behindertenhilfe fordert auch die Leiterin der Heimstatt-Clemens-August, Angelika Kürten-Schlarmann (Neuenkirchen-Vörden). „Die Entscheidungen passten nicht“, kritisiert sie rückblickend auf 2020. „Dass der Bereich der Behindertenhilfe mit der Pflege über einen Kamm geschert wird, geht für unsere Bewohner gar nicht“, stellt die Diplom-Psychologin fest. „Manches muss für die Behindertenhilfe eigens geregelt werden.“

So bräuchten Kinder und Jugendliche, die positiv seien, trotzdem Hilfe beim Essen, Duschen oder Anziehen. Sie habe einzelne, sehr umtriebige Kinder ihrer Einrichtung der Behindertenhilfe vor Augen: „Die können wir im Falle einer Infektion nicht im Zimmer isolieren.“ Eine komplette Quarantäne würde nicht funktionieren. Dafür bräuchten wir eine Person, die ausschließlich dieses Kind immer wieder ermahne, im Zimmer zu bleiben.

Tagesstruktur für Bewohner enorm wichtig

„Jemand mit Handicap kann sich nicht selbst beschäftigen“, warnt sie weiter. Für zwei Wohngruppen für erwachsene Autisten habe man daher 2020 entschieden, das Angebot der „hausinternen Tagesstruktur“, an der ausschließlich die Bewohnerinnen und Bewohner der Heimstatt teilnehmen, weiterlaufen zu lassen. Kürten-Schlarmann: „Autisten können nicht den ganzen Tag nur in ihrer Wohngruppe bleiben.“ Für viele der 40 Kinder und 100 Erwachsenen ihrer Einrichtung sei das Erleben einer Tagesstruktur das Wichtigste.

Ihre aktuelle Kritik in Anbetracht der regelmäßigen Testung aller 140 Erwachsenen und Jugendlichen: „Kein Mensch überlegt, uns mit mehr Personalressourcen zu bestücken, um das alles zu schaffen.“

Massiver Personalmangel kommt hinzu

Guido Moormann. | Foto: Dietmar Kattinger (lcv)
Guido Moormann. | Foto: Dietmar Kattinger (lcv)

Mangelnde Aufmerksamkeit für die Behindertenhilfe beklagt auch Guido Moormann vom Andreaswerk Vechta. „Bei einem Ausbruch in einem Wohnheim haben wir die gleiche Situation wie in einem Pflegeheim“, schildert der Leiter des Geschäftsbereichs Wohnen und Assistenz. „Das heißt volle Schutzausrüstung. Wochenlang in voller Isolation arbeiten. Da wird die Belegschaft völlig geschlaucht.“

Mehr noch weist er auf ein strukturelles Defizit hin: „Wir haben in der Eingliederungshilfe einen dramatischen Kräftemangel.“ In den kommenden zehn bis 15 Jahren gehe die ganze Babyboomer-Generation in den Ruhestand. „Das macht in meinem Bereich Wohnen und Assistenz  rund ein Drittel der Belegschaft aus.“

Corona-Krise verschärft Strukturprobleme

Hinzu komme, dass zwischen 2016 und 2020 in Niedersachsen einen Rückgang um 25 Prozent bei jungen Menschen gab, die eine Ausbildung in der Heilerziehungspflege begonnen haben. „Das ist eine dramatische Zahl“, so der Leiter.

Neben den Fachkräften gebe es in der Behindertenhilfe die gleiche Anzahl an Hilfs- und Betreuungskräften. „Das sind Garanten für die Dienste.“ Aber auch die finde man nicht mehr in der notwendigen Anzahl. Moormann: „Ich sehe nicht, wie das alles zu kompensieren ist.“ Die Corona-Krise habe diese Strukturprobleme in der Behindertenhilfe einerseits offengelegt und gleichzeitig verschärft.

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