Forscher der Universität Münster legen erste Ergebnisse von Missbrauchs-Studie vor

Historiker sehen Vertuschungs-Netzwerk um Bischof Lettmann

  • Ein Forscherteam des Universität Münster hat erste Ergebnisse einer Studie über Missbrauch im Bistum Münster vorgestellt.
  • Die Wissenschaftler um den Historiker Thomas Großbölting erkennen Anzeichen für ein Vertuschungs-Netzwerk um den früheren Münsteraner Bischof Reinhard Lettmann.
  • Während im Erzbistum Köln zunehmend unklarer werde, ob die Bistumsleitung die Aufklärung unterstützt, unterstütze das Bistum Münster die Arbeit seines Teams vorbehaltlos.

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Von einem Netzwerk der Missbrauchs-Vertuschung während der Amtszeit von Bischof Reinhard Lettmann (1980-2008) geht das Forscherteam um den Historiker Thomas Großbölting aus. Die Wissenschaftler der Universität Münster stellten am Mittwochmorgen erste Ergebnisse ihrer unabhängigen Studie vor, mit der das Bistum Münster sie beauftragt hat.

Die Studie soll sexualisierte Gewalt durch Priester im Bistum Münster zwischen 1945 und 2018 untersuchen und dabei auch die Rolle der Verantwortlichen in der Diözese erforschen. Um die Unabhängigkeit der Studie zu verdeutlichen, nahm niemand aus der Bistumsleitung an der Präsentation teil.

 

Die meisten Ersttaten in den 60-er und 70-er Jahren

 

Großbölting und sein Team gehen von 200 Beschuldigten und 300 Betroffenen für diesen Zeitraum aus: „Die Zahlen können sich jedoch noch ändern, wir nehmen eine hohe Dunkelziffer an.“ Bislang sei ein Ausschnitt von 49 Fällen untersucht worden, denen 82 Betroffene zugeordnet werden konnten. Rund 90 Prozent von ihnen sind männlich. Im Durchschnitt waren die Betroffenen elf Jahre alt, als sie den ersten Übergriff erleiden mussten.

Die Betroffenen meldeten demnach elf Erst-Taten aus den 1950-er Jahren, 31 aus den Sechzigern, 15 aus den Siebzigern, neun aus den Achtzigern, drei aus den Neunzigern und elf aus den 2000-er Jahren. Seit 2010 seien in den bislang erforschten Fällen keine Erst-Taten festgestellt worden.

 

Forscher: Mitteilung des Bistums war falsch

 

Historiker Klaus Große Kracht
Historiker Klaus Große Kracht.

Laut Studie waren der Bistumsleitung schon vor dem Jahr 2000 mindestens 32 Menschen bekannt, die von Missbrauch betroffen sind. „Dieser Fakt widerspricht der Information der Bischöflichen Pressestelle von 2002, die von ‚vereinzelten Fällen‘ gesprochen hat. Diese Aussage ist falsch“, sagt David Rüschenschmidt, einer der fünf Mitarbeitenden des Forscherteams. Ein bedeutender Teil der Missbrauchstaten falle auf „einige dem Bistum bekannte Intensiv- und Langzeittäter“.

Ein „massives Leitungs- und Kontrollversagen“ der Bistumsleitung ist demnach bei den „Langzeittätern“ Bernhard Janßen, Franz Nienaber, Heinz Pottbäcker, Theo Wehren und dem Priester A. festzustellen. Drei von ihnen seien trotz Haft- oder Bewährungsstrafen weiter in der Pfarrseelsorge eingesetzt worden. „Wurden weitere Taten bekannt, wurden die Priester weiter versetzt, teils aus gesundheitlichen Gründen“, berichtet Bernhard Frings vom Forscherteam.

 

Kirchenrechtliche Verfahren ignoriert

 

Zwar seien Akten offenbar nicht systematisch gereinigt oder vernichtet worden, sagt Großbölting. Es sei allerdings ein „sehr zurückhaltender Umgang“ mit der Dokumentation festzustellen. Auch Sitzungen der Personalkonferenz seien lange Zeit nicht protokolliert worden. „Das ist ein Beispiel dafür, dass vielen Verantwortlichen bewusst war, um welche schwierigen Zusammenhänge es geht.“

Zudem seien die spätestens seit 1962 vorgeschriebenen kirchenrechtlichen Verfahren großteils ignoriert worden. Das sei umso auffälliger, als „mit Bischof Lettmann ein promovierter Kirchenrechtler an der Spitze des Bistums stand“. Solche Verfahren seien erst seit den 2010er Jahren festzustellen.

 

Großbölting: Auch Vechta machte mit

 

Zwar werde noch untersucht, inwieweit auch die Weihbischöfe als Regionalbischöfe in die Verantwortung zu ziehen seien; für den oldenburgischen Teil des Bistums Münster könne allerdings bereits gesagt werden, dass beschuldigte Priester von Münster in den Offizialatsbezirk Oldenburg versetzt worden seien.

Es habe eine „sehr enge Kooperation zwischen dem Offizialat Vechta und Generalvikariat Münster“ gegeben. „Keine Maßnahme ging über den Kopf des jeweils anderen hinweg“, so Großbölting. Ab 1970 war Max-Georg von Twickel Offizial in Vechta.

Es stelle sich die Frage nach einem „System Lettmann“, so der Historiker Klaus Große Kracht. Der Bischof habe lange an der Spitze des Bistums Münster gestanden, viele seine Mitarbeiter hätten später andere Bistümer übernommen. Es frage sich, ob es eine „gewisse Kultur gab, in die andere Verantwortungsträger eingewachsen waren, die anderswo so gehandelt haben, wie es im Bistum Münster praktiziert wurde“.

 

„Bischöfe hätten Taten verhindern können“

 

Historiker Bernhard Frings
Historiker Bernhard Frings.

Der Historiker Bernhard Frings macht zudem eine Unklarheit im Rollenverständnis der Bischöfe aus: „Sie wollten ihren Priestern als Seelsorger begegnen, mussten zugleich aber als Vorgesetzte oder Richter auftreten.“ Dadurch kam es „nicht oder viel zu spät zu Suspendierung oder der Einleitung kirchenrechtlicher Verfahren“. Die Münsteraner Bischöfe Joseph Höffner, Heinrich Tenhumberg und Reinhard Lettmann „hätten durch konsequentes Vorgehen zahlreiche Taten verhindern können“.

 

Gab es Netzwerke?

 

Ob es unter Priestern oder unter Beschuldigten ein Netzwerk gegeben hat, beschäftigt die Forscher seit Anfang an, sagt Großbölting. „Wir gehen davon aus, dass es ein hohes implizites Wissen über Täter in den klerikalen Zusammenhängen gibt.“

David Rüschenschmidt berichtet von einem Betroffenen, der von einem weiteren Priester berichtete, der zu Missbrauchstaten eines Geistlichen hinzugekommen sei. „Da gab es eine Komplizenschaft“, die sich allerdings nicht in den Quellen niederschlage. „Da sind wir auf Betroffenenberichte angewiesen.“

 

Druck auf Betroffene von Gläubigen

 

Komplizenschaft, Tendenz zur Verharmlosung und eingespielte Kollektive machen die Forscher aber auch außerhalb der klerikalen Kreise aus. Familien von Betroffenen berichteten demnach, auch in ihren Gemeinden unter Druck gesetzt oder diskreditiert worden zu sein, wenn sie einen Priester zur Anklage brachten.

Zudem sollen kirchennahe Mediziner und Psychologen in den Sechziger- und Siebzigerjahren als Gutachter herangezogen worden sein – so der Leiter einer kirchlichen Klinik in Neuenkirchen, der Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Bistum Münster und ein weiterer Experte.

 

„Eingespieltes Kollektiv“

 

Dabei habe es ein „eingespieltes Kollektiv gegeben, das Routinen zur Wiedereinsetzung von Priester entwickelt hat“. So sei in einem Fall bereits alles für die Versetzung eines Beschuldigten vorbereitet gewesen, es habe nur noch die Äußerung des Therapeuten gefehlt.

Eine „Eliten-Verschmelzung“ kann der Historiker Bernhard Frings auch mit Blick auf die staatlichen Ermittlungsbehörden feststellen. Es sei ein Fall bekannt, bei dem die Staatsanwaltschaft sich wegen eines beschuldigten Priesters an Offizial von Twickel gewandt und sinngemäß gesagt habe: Entweder ihr holt ihn raus, oder wir machen das.

 

Großbölting: Weit entfernt vom Erzbistum Köln

 

Studienleiter Großbölting betonte, es gehe in ihren Untersuchungen nicht darum, „gerichtsfeste“ Belege zu finden. Er und sein Team gingen verantwortlich mit der Nennung der Namen von Beschuldigten und Verantwortlichen um – ihrer Ansicht nach Personen der relativen Zeitgeschichte. Dabei orientierten sie sich am Gutachten der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) für das Bistum Aachen oder am Stasi-Unterlagengesetz zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

„Wir sind damit weit entfernt vom Erzbistum Köln, wo zunehmend unklarer wird, ob die Aufarbeitung von der Bistumsleitung unterstützt wird.“ Für ihre Arbeit im Bistum Münster sei als Voraussetzung die volle und vorbehaltlose Unterstützung durch das Bistum und Zugang zu den Akten Bedingung gewesen.

„Diese Voraussetzung ist voll und ganz erfüllt“, sagt Großbölting. „Bischof Felix Genn, Generalvikar Klaus Winterkamp, der Interventionsbeauftragte Peter Frings sowie Archiv und Verwaltung tun ihr Möglichstes, um die Aufarbeitung voranzubringen.“

Das Forschungsprojekt
Laut Thomas Großbölting, Leiter der Studie über Missbrauch im Bistum Münster von 1945-2018, hat das Forschungsteam innerhalb rund eines Jahres mehrere hundert Akten ausgewertet und etwa 70 Interviews geführt. Im Frühjahr 2022 sollen die endgültigen Ergebnisse vorliegen und auch Namen von Verantwortlichen genannt werden, die etwa Missbrauch vertuscht haben. Es gehe nicht nur um die rechtliche Aufarbeitung, so der Historiker. Das Team wolle auch Systeme und Einstellungen beleuchten, die Missbrauch begünstigt und zur Vertuschung beigetragen haben.
Das Bistum Münster hat die Untersuchung beauftragt und finanziert sie mit rund 1,3 Millionen Euro. Die Diözese hat laut Großbölting keine Eingriffsmöglichkeiten. Die Arbeit knüpft an eine 2018 vorgestellte Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe an. Sie hatte im Bistum Münster mindestens 450 Betroffene und 138 beschuldigte Kleriker in den Jahren 1946 bis 2014 verzeichnet. | KNA
 

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