Interview mit Liturgiewissenschaftler Stephan Wahle

Hochamt und Sonntagspflicht: noch zeitgemäß?

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Eine evangelische Pfarrerin forderte unlängst in der „Zeit“-Beilage „Christ&Welt“ nicht weniger als die Abschaffung des Sonntagsmorgengottesdienstes. Schließlich komme kaum noch jemand – und wenn doch, dann eher alte Leute. Eine provokative Aussage, die viel Kritik nach sich zog. Andererseits: Nur jeder 20. katholische Gläubige geht sonntags noch zur Messe. Haben wir uns damit abgefunden? Braucht es mehr Flexibilität? Der Paderborner Liturgiewissenschaftler Stephan Wahle hat sich auf diese Fragen spezialisiert.

Herr Wahle, eine evangelische Pfarrerin beklagt in der „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“, die Fixierung auf den Sonntagsgottesdienst am Morgen gehe an der Lebensrealität der Menschen vorbei und ziehe ohnehin nur alte Menschen an. Hat sie recht?

Sie hat zumindest nicht völlig unrecht. Richtig ist allerdings auch, dass nicht nur alte Menschen kommen und dass es viele verschiedene Formate im Jahresverlauf gibt. Das Anliegen, nach der Attraktivität unserer Sonntagsgottesdienste zu fragen, sollte man ernst nehmen.

Zwar gibt es katholischerseits auch Vorabendmessen am Samstag und eine Abendmesse am Sonntag, das klassische Hochamt ist dennoch meist sonntags um 10 Uhr herum. Warum eigentlich?

Wir feiern sonntags Eucharistie, weil von der Heiligen Schrift her so überliefert ist, dass an dem Tag Christus von Toten auferstanden ist. Und wenn man genauer hinschaut, erzählt die Apostelgeschichte, dass das Pfingstereignis mit der Predigt des Petrus und der Geistaussendung „zur dritten Stunde“ geschieht, also um neun Uhr. Von daher ist neun Uhr schon sehr früh die Zeit, zu der sich der Sonntagsmorgengottesdienst etabliert hat. Die ersten Christen haben sich sicher auch am Vorabend oder am Sonntagabend versammelt, zumal der Sonntag erst im Lauf des vierten Jahrhunderts arbeitsfrei war.

Allerdings: Die Diskussion um den Sonntagsgottesdienst lässt vergessen, dass die Eucharistie keineswegs die einzige Gottesdienstform ist, schon gar nicht für die Werktage – denken Sie nur an das Stundengebet, das ja nicht nur sonntags um neun, sondern quasi jeden Tag rund um die Uhr gefeiert wurde und wird. In orthodoxen Kirchen würden sie niemals mitten in der Woche Eucharistie feiern.

Im Bistum Münster gehen laut aktueller Statistik (2022) knapp 4,8 Prozent aller Katholikinnen und Katholiken zur Sonntagsmesse. Anders gesagt: 95 Prozent kommen nicht. Haben wir uns längst damit abgefunden?

Das ganz sicherlich nicht. Ich kenne viele Gemeinden, die sehr besorgt sind und sich längst überlegt haben, welche anderen Formen und Zeiten wir finden können. Und doch ist an Ihrer Frage was dran: Es gibt schon eine Lethargie und Hilflosigkeit – und da findet man sich sicherlich auch ein Stück damit ab. Aber das darf eigentlich nicht geschehen.

Was sind die Gründe?

Den einen Grund gibt es nicht. Man hat lange gedacht, es läge an der Qualität der Gottesdienste, aber das ist nicht der Hauptgrund. Die jüngste Kirchenmitgliedsuntersuchung sagt deutlich: Der größte Teil der deutschen Bevölkerung sagt, ihnen fehle ohne Gottesdienst nichts. Dabei nimmt die Gruppe derer, die glauben, ohne zur Kirche zu gehen, stärker ab als jene, die noch eine kirchliche Beziehung haben. Das heißt: Ohne einen Gemeinde- und liturgischen Bezug wird es keinen christlichen Glauben mehr geben.

Wo Arbeit und Alltagsbewältigung immer mehr Raum einnehmen, wollen viele am Wochenende endlich entspannen, ausschlafen, Familie und Freizeit genießen. Die Kirche aber hält weiter an der Sonntagspflicht fest. Wie zeitgemäß ist das noch?

Offiziell wird an der Sonntagspflicht festgehalten, aber die Sanktionen, die daraus erfolgen, spielen ja nicht mal innerkirchlich noch eine Rolle. Daher wäre in der Tat zu fragen, ob die Sonntagspflicht noch zeitgemäß ist – und seit wann es sie überhaupt gibt.

Gute Fragen! Ihre Antwort?

Jedenfalls nicht von Anfang an. Die Begründung dafür ist wenig theologisch, sondern ein naturrechtlicher Gedanke, der im Mittelalter prägend wurde: Der Mensch ist als Mensch dazu verpflichtet, Gott gegenüber Verehrung, also Kult zu leisten. Das tut er, indem er am Gottesdienst teilnimmt. Da kann man heute schon fragen, ob das heute so begründbar ist. Womöglich wäre es sinnvoller, nicht von einer Gott geschuldeten Pflicht zu sprechen, sondern von einer Selbstverpflichtung Gott gegenüber.

Ob Lightshow oder Liturgie in der Tiefgarage: Sobald ein Gottesdienst sich vom Gewohnten unterscheidet, findet das oft Aufmerksamkeit. Ist die übliche Gemeindemesse abgeschrieben?

Ein Gottesdienst ist nie etwas ganz Normales. Eigentlich feiern wir tatsächlich ein Fest. Das immer und in aller Häufigkeit so zu tun, dass es wirklich als Fest erlebt wird – das ist fast schon eine Überforderung. Und, keine Frage: In unserer Erlebnisgesellschaft ist man nicht ganz losgelöst davon, dass Gottesdienste ebenso ganz besonders gestaltet sein sollen, damit sie als attraktiv erfahren werden.

Andererseits sehnen sich viele nach Stille, Meditation, einfachen Gottesdienstformen – als bewusster Kontrast zu all den aufwändigen Events im Alltag. Wie damit umgehen?

Wir werden es nie schaffen, in unseren Gottesdiensten die Professionalität zu erreichen, wie das eine Oper oder ein Popkonzert schafft. Und doch müssen alle, die Liturgien vorbereiten, versuchen, sich eine entsprechende Feier-Kompetenz anzueignen, ohne zum Entertainer werden zu wollen. Aber zurück zu ihrer Frage. Wenn man die Leute fragen würde, ob sie Stille im Gottesdienst erleben, dürften die meisten sagen: Nein, da wird eigentlich ständig geredet. Ich würde sehr dazu ermutigen, mehr Stille zu wagen. So etwas trägt sicherlich dazu bei, dass Gottesdienste wirklich zu einem spirituellen Erlebnis werden können.

Zu Weihnachten und Ostern sind die Kirchen voll gewesen, bei Lebensfeiern wie Taufen, Trauung, Beerdigung sind sie es oft auch. Was davon ist in die ganz normalen Sonntage zu retten?

Natürlich haben eine Taufe oder eine Beerdigung einen ganz eigenen, einmaligen Sitz im Leben. Das trifft intensiv, aber eben punktuell in das Innerste des Menschen und lässt sich nicht einfach übertragen in einen Sonntagsgottesdienst. Ähnliches gilt für die großen Feste wie Weihnachten. Aber die große Emotionalität all dieser Feiern, die wir dort zulassen, die würde ich mir auch für die anderen Tage, nicht zuletzt die Sonntage wünschen. Es kommt nicht nur auf das Kognitive, auf das gesprochene Wort oder die korrekt formulierte Fürbitte an.

Wie wichtig ist es, dass ich als Mensch mit meiner Befindlichkeit, meinen Sorgen, Nöten, Ängsten, Freuden und Hoffnungen im Gottesdienst angesprochen bin?

Es ist eine Gratwanderung. Ein Gottesdienst wird nie alle Wünsche und Erwartungen treffen können. Die biblischen Erzählungen aus ganz alten Zeiten werden mal ansprechen, an anderen Tagen nicht. Gefährlich ist es, wenn es überhaupt keinen Bezugspunkt zwischen Kult und Leben mehr gibt. Untersuchungen zeigen: Es stimmt nicht, dass Menschen sich allein vom „Ganzanderen“, nur vom „Heiligen“ ansprechen lassen. Gleichwohl: Gottesdienst lebt von einer gewissen Regelmäßigkeit. Wenn ich an dem einen Sonntag vielleicht nicht so richtig dabei bin, dann womöglich am nächsten oder übernächsten. Dafür braucht es natürlich die Bereitschaft, sich ansprechen oder besser: anschauen zu lassen von dem Gott, der mich im Gottesdienst anschauen will.

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