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Mehr als 500 Menschen haben dem Holocaust-Überlebende Boris Zabarko in Münsters Paulusdom zugehört. Was er über seine Kindheit über die Judenvernichtung in seiner ukrainischen Heimat und im Ghetto erzählte, machte viel betroffen.
Ein voll besetztes Mittelschiff, unter ihnen viele junge Menschen: Noch lange nach einem zweistündigen Gespräch und den Informationen über den Holocaust standen Besuchergruppen im oder vor dem Paulusdom in Münster zusammen, um darüber zu sprechen, was sie zuvor gehört hatten - ein Zeitzeugengespräch mit Boris Zabarko, dem aus der Ukraine stammenden Überlebenden des Holocaust.
Unter ihnen Hanna Ergezinger und Lina Kötterheinrich, beide angehende Religionslehrerinnen. „Das Geschehene macht mich betroffen. Es ist erschreckend, was Menschen angetan wurde. Ich bin froh, die Chance zu haben, von einem Überlebenden zu erfahren, was er erlitten hat“, sagte Lina Kötterheinrich im Gespräch mit Kirche+Leben. Es sei wichtig, den Zeitzeugen zuzuhören, meinte Hanna Ergezinger: „Die Geschichte des Nationalsozialismus und der Holocaust dürfen nicht vergessen werden. Der Bericht von Boris Zabarko hat mich sehr bewegt.“
Dankesworte an Deutschland
Mit dem Paulusdom als Veranstaltungsort habe das Gespräch einen passenden Rahmen gefunden, meinte Heike Sieger, die eigens aus Unna angereist war. Beeindruckt habe sie auch, wie sich Zabarko ausdrücklich für die Hilfe Deutschlands für die Ukraine angesichts des russischen Angriffskrieg bedankt habe: „Das war schon ergreifend, wie jemand, der die deutsche Judenverfolgung überlebt hat, diese Dankesworte an Deutschland finden konnte.“
Der Historiker Boris Zabarko, Jahrgang 1935, wurde als Kind zum Zeugen, wie Menschen in ein Ghetto gepfercht wurden und unter unmenschlichen Bedingungen dahinvegetieren mussten. Nur mit Glück überlebten er und seine Familie das Ghetto Schargorod in Transnistrien, das von 1941 bis 1944 unter deutschem Einfluss stehendes rumänisches Besatzungsgebiet war.
Holocaust in der Ukraine
Zabarko war einer der Ersten, die das Schicksal der Juden unter deutscher Besatzung in der Ukraine systematisch erforscht haben. Er war von 1971 bis 1991 Mitglied der sowjetisch-deutschen (DDR) Historikerkommission und ist seit 2004 Präsident der ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Häftlinge der Ghettos und nationalsozialistischen Konzentrationslager.
Unter dem Titel „Stimme der Geschichte – erinnern für die Zukunft“ sprach Zabarko auf Einladung der Universität Münster. „Auf dem Boden der Ukraine vollzog sich die Judenvernichtung in aller Brutalität und Konsequenz“, sagte er und nannte als Beispiel das Massaker von Babi Jar bei Kiew, bei dem am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden.
Von Mittätern und Helfern
Antisemitismus sei gleichwohl nicht nur ein deutsches Phänomen gewesen, berichtete der Historiker. Täter habe es überall gegeben, wo der Antisemitismus populär gewesen sei, etwa in Rumänien, Ungarn, Litauen und Lettland. „Täter waren auch Ukrainer, die bereitwillig in den Dienst der deutschen Besatzung traten.“
Aber es habe auch immer wieder die Hilfsbereitschaft gegeben. Wie im Ghetto von Schargorod, wenn etwa ein Bauer mit einem Wagen voller Rüben so langsam fuhr, dass die Hungrigen Rüben mitnehmen konnten, um sich so ein Überleben zu sichern. Es habe diejenigen gegeben, die Juden versteckt hielten oder ihnen beistanden.
Warum schwieg Papst Pius XII.?
Doch habe der Holocaust auf ukrainischem Boden fast vollständig gewütet: Die deutschen SS-Einheiten mit ihren Helfershelfern hatten an mehr als 600 Vernichtungsorten in der Ukraine 1,5 Millionen Juden umgebracht. „Alte, Frauen, Kinder, allesamt Juden, die deswegen gestorben sind, weil sie als Juden geboren worden waren. Sie wurden ermordet oder starben an Hunger, Entkräftung und Krankheit“, sagte Zabarko.
Vor Beginn des Zeitzeugengesprächs hatte der Kirchengeschichtsprofessor Hubert Wolf von der Universität Münster einen Einblick in das Forschungsprojekt „Asking the Pope for Help“ gegeben, das Bittschreiben jüdischer Menschen an den Vatikan während der Shoah aufarbeitet. Hubert Wolf thematisierte auch das Schweigen von Papst Piux XII. zum Holocaust - oder warum dieser nicht laut protestiert habe.
Lemberger Erzbischof informierte über den Holocaust
So hätte der damalige Kurienmitarbeiter und spätere Kardinal Angelo Dell'Acqua 1942 die Glaubwürdigkeit der Angaben einer jüdischen Organisation sowie des damaligen Lemberger Erzbischofs Andrej Szeptyzkyj über die Ermordung einer halben Million Juden innerhalb eines halben Jahrs in der Ukraine bezweifelt und so den Papst möglicherweise falsch beraten.
Um Pius XII. davon abzuhalten, der US-amerikanischen Regierung gegenüber die Glaubwürdigkeit der jüdischen Informationen über die Ermordung hunderttausender Juden zu bestätigen oder sich gar einem öffentlichen Protest der Alliierten gegen den Holocaust anzuschließen, habe Dell'Acqua entsprechende Dokumente zum Holocaust als unglaubwürdig hingestellt. Zuvor hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt in einem Schreiben gefragt, ob der Vatikan Informationen über eine massenhafte Ermordung von Juden im Jahr 1942 bestätigen könne oder nicht.
Ein Projekt der Schulseelsorge Ibbenbüren
Die Moderation der Veranstaltung übernahmen der Schulseelsorger Christoph Moormann und die Sozialarbeiterin Barbara Kurlemann (beide aus Ibbenbüren). Das Zeitzeugengespräch basierte auf einem Projekt für Menschlichkeit und gesellschaftliche Verantwortung auf Initiative der katholischen Schulseelsorge Ibbenbüren. Es wurde organisiert vom katholischen Theologen Ludger Hiepel, dem Beauftragten der Universität Münster gegen Antisemitismus in Kooperation mit der Stadt Münster und dem Paulusdom.