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Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf gehört mit seinem siebenköpfigen Team zu den 30 Forschern, die in den seit März geöffneten Vatikan-Akten über Papst Pius XII. forschen können. Dabei geht es vor allem um die Rolle des Papstes und des Vatikans im Zweiten Weltkrieg und ihr Verhältnis zum Holocaust. Wolf hat nun nach nur wenigen Tagen spektakuläre Funde gemacht, worüber zunächst die "Die Zeit" berichtete. Worum es dabei geht, wie es dazu kam und welche Konsequenzen sie zeitigen sollten, sagt er im Interview mit "Kirche-und-Leben.de".
Herr Professor Wolf, Sie haben nach der Öffnung der Archive zu Papst Pius XII. bereits nach kurzer Zeit Dokumente gefunden, die ein neues Licht auf das Verhältnis des Heiligen Stuhls zum Holocaust werfen. Erklären Sie uns, was genau Sie an Spektakulärem gefunden haben – und wie es dazu kam?
Dazu muss der historische Hintergrund klar sein: Pius XII. stirbt 1958. Er wird überall auf der Welt gelobt – von manchen jüdischen Vertretern wie Golda Meir sogar als „Wohltäter des jüdischen Volkes“. Dann veröffentlicht Rolf Hochhuth 1963 sein Schauspiel „Der Stellvertreter“ über die Haltung des Vatikans zum Holocaust und über das Schweigen Pius’ XII. dazu. Und plötzlich wird aus der viel gerühmten und verehrten Lichtgestalt Pius’ XII. „Hitlers Papst“, was einen ungeheuren Shitstorm in der damaligen Bevölkerung auslöste. Zugleich beginnt der Heilige Stuhl damit, diesen Papst auf alle mögliche Weise zu verteidigen. Doch das funktioniert nicht.
Wie reagiert der Vatikan?
Papst Paul VI., zuvor als Giovanni Battista Montini enger Mitarbeiter von Pius XII. im Staatssekretariat, entschließt sich, das Ganze wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Er beauftragt vier jesuitische Professoren, alle einschlägigen Akten des Heiligen Stuhls von 1939 bis 1945 durchzuarbeiten, und alle zentralen Dokumente in einem elfbändigen Werk zu veröffentlichen. Die sogenannten „Actes et Documents“ sind auch eine wesentliche Grundlage für den Seligsprechungsprozess von Pius XII. Immer wieder wird diese elfbändige Aktensammlung als absolut zuverlässig gelobt. Man geht sogar so weit zu sagen: In diesen Quellen wird uns kein einziges Dokument vorenthalten.
Sodass man davon ausgehen müsste, dass man auch in den bislang noch verschlossenen Archiven nichts finden würde, was dem widerspräche?
Ganz genau. Und darum sagen ja auch einige, dass es sinnlos ist, zu dieser Thematik überhaupt in den Archiven zu arbeiten.
Nun hatten Sie die Chance, nach der Öffnung der Archive im März sich mit einem siebenköpfigen Team aus Münster in den Archiven selbst ein Bild zu machen.
In der Tat. Jetzt hatten wir die Chance. Wir wissen, dass es etwa 400.000 Schachteln voller Dokumente zum gesamten Pontifikat Pius’ XII. gibt. Auf die NS-Zeit dürften etwa 150.000 Archiveinheiten entfallen. Allein deren wesentliche Inhalte in elf Dokumenten-Bänden publizieren zu wollen, ist schlicht unmöglich. Es gab 30 Arbeitsplätze im Vatikanischen Apostolischen Archiv – und unser Münsteraner Forscherteam hatte sieben davon. Wir konnten nichts anderes tun, als – unterstützt von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung – Probebohrungen nach einem genauen Ausgrabungsplan vorzunehmen. Schon am zweiten Tag fand mein Mitarbeiter Dr. Sascha Hinkel in einer Serie des Staatssekretariats Material von 1942 zur Vernichtung der Juden – und darunter ein Dokument, das bislang unbekannt war.
Das heißt, dieses Dokument kommt in dem elfbändigen, von Papst Paul VI. in Auftrag gegebenen Werk nicht vor?
Exakt, es ist unterschlagen worden. Aber ich habe zunächst gesagt: Das kann nicht sein, das müssen wir genau nachprüfen. Deshalb arbeiten wir immer nach dem Vier-Augen-Prinzip: Ich selber habe in den nächsten beiden Tagen diesen Aktenbestand unabhängig von meinem Mitarbeiter nochmals gründlich durchgearbeitet und Seite für Seite abgeschrieben. Dann haben wir – nachdem wir wegen der Corona-Krise das Archiv verlassen mussten – unsere Aufzeichnungen genommen und sie Stück für Stück mit den „Actes et Documents“ abgeglichen. Dabei haben wir zunächst festgestellt: Diese elf Bände lösen den Zusammenhang, in dem die Akten im Archiv liegen, auf.
Was bedeutet das?
Das hat zur Folge, dass man nicht mehr versteht, wie was zusammenhängt. Vor allem aber taucht das entscheidende Dokumentenstück nicht auf, in dem nämlich belegt wird, dass der Heilige Stuhl die Informationen einer jüdischen Organisation über die Ermordung einer halben Million Juden innerhalb eines halben Jahrs in der Ukraine durch eigene Quellen – nämlich Äußerungen des katholischen Erzbischofs Andrej Szeptyzkyj in der Ukraine – bestätigen kann. Um den Papst davon abzuhalten, der amerikanischen Regierung gegenüber die Glaubwürdigkeit der jüdischen Informationen über die Ermordung hunderttausender Juden zu bestätigen, oder gar sich einem öffentlichen Protest der Alliierten gegen den Holocaust anzuschließen, versucht ein hochrangiger Mitarbeiter, der spätere Kardinal Angelo Dell’Acqua, diese in den Fakten übereinstimmenden und voneinander unabhängigen Zeugnisse der Juden und des katholischen Erzbischofs als unglaubwürdig hinzustellen, indem er schreibt: Juden könne man ohnehin nicht trauen und ebenso wenig orientalischen Katholiken, weil sie zu Lügen und Übertreibungen neigten.
Was heißt das zusammengefasst?
Wir haben es mit einem Schlüsseldokument zu tun, das uns bislang vorenthalten wurde, weil es eindeutig antisemitisch ist und Hintergründe offenlegt, warum Pius’ XII. nicht aufschreit gegen den Holocaust. Deshalb wird man der gesamten elfbändigen Edition gegenüber skeptisch sein und sie im Archiv Blatt für Blatt überprüfen müssen.
Und man wird auch skeptisch gegenüber einer Seligsprechung von Papst Pius XII. sein müssen?
Jetzt muss man erst einmal die neu zugänglichen Quellen prüfen. Wenn Pius XII. aus diesem Quellenstudium heller herauskommt – wunderbar. Wenn er dunkler herauskommt, muss man auch das akzeptieren. Aber zu meinen, man könne ohne diese Quellenarbeit das Seligsprechungs-Verfahren abschließen – dann wäre die Archivöffnung witzlos. Davon abgesehen: Ich bin selber Vorsitzender der Historikerkommission von zwei Seligsprechungsverfahren und musste schon ganz zu Beginn in der bischöflichen Kapelle mit der Hand auf dem Evangelium einen Eid schwören, in dem ich bestätige, alle in Frage kommenden Dokumente zum Leben dieses Dieners Gottes gesehen und diese allen Regeln der historischen Kunst gemäß bearbeitet zu haben. Wer könnte das von 400.000 Schachteln mit je 1.000 Blatt von sich behaupten, wenn das Archiv bislang geschlossen war?