Ein Besuch anlässlich der Unterzeichnung von „Fratelli tutti“ durch den Papst

In die Weite, in die Tiefe: Wie Assisi Franziskus prägte (Teil 3)

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Heute, am 4. Oktober, dem Gedenktag des heiligen Franz von Assisi, veröffentlicht Papst Franziskus seine neue Enzyklika "Fratelli tutti". Zur Unterschrift reiste er tags zuvor eigens in den Ort seines Namenspatrons. Der dritte und letzte Teil unserer Reportage-Serie besucht die "Carceri" und La Verna, die ins Innerste der Gottsuche von Franziskus führen: zu tiefer Einsamkeit und tiefen Wunden.

Man muss aufpassen, dass man vor lauter Orten, vor lauter heiligen Orten, die Wege nicht vergisst. Jene, die zu ihnen führen, die sie miteinander verbinden und die wieder zurückführen in die eigene Welt. Auch in Assisi sind die vielen kleinen und großen heiligen Orte nicht einfach schon Ziele. Wer sich wirklich zu ihnen aufmacht, macht sich auch wirklich auf – in der Ahnung, dass einem dort etwas aufgeht: ein Licht, eine Wunde, ein Gedanke, das Herz. Dann erst wird ein Ort ein heiliger, wenn er zu heilen vermag und wieder sendet, zurück ins Profane, das dem Wortsinn nach doch nichts anderes ist als der Vorhof des Heiligen. Alles aber ist die eine, eigene Lebensspur, und die ist erfahrungsgemäß nicht geradlinig. Treue braucht sie umso mehr.

Mitten im Wald, auf 700 Metern Höhe und vier Kilometer von Assisi entfernt, steht Franziskus zwischen Bäumen und Büschen, in Bronze gegossen. Um ihn herum ein großer Kreis, darauf ein Stern, ein Halbmond, ein Kreuz, das „Om-Zeichen“, ein Rad – ein Heiligenschein der Weltreligionen, die sich 1986 auf Einladung von Papst Johannes Paul II. in Francescos Stadt versammelten. Der Poverello selbst hat es bis zu den Muslimen geschafft, seine Begegnung mit Sultan al-Kâmil Muhammad al-Malik in Ägypten ist legendär. Überhaupt ist Franziskus ein Wanderer, dem die Straßen vertrauter sind als Häuser und für den der Himmel das Dach der Schöpfung ist, seiner Heimat. Sesshaftigkeit will nicht passen zu einem, der so besessen war vom „einfach Leben“, dass er auf allen Besitz verzichtete und sich mit dem großen Ganzen begnügte.

 

Ringsum Wald, Wald, Wald

 

Und so sitzen denn auch auf der Schulter des Bronze-Bruders im Wald zwei ebenso gegossene Vögel, weil einige Schritte weiter ein Baum als derjenige ausgewiesen wird, vor dem Franziskus einst den Spatzen und anderem Federvieh gepredigt habe. Für manche muss es eine Dialogpredigt gewesen sein, für andere kann das gar nicht an diesem Ort gewesen sein. Denn dieser Ort ist „Carceri“, wohin sich Franziskus zurückzog, immer wieder – wenn er eben nicht predigte, sondern neue Kraft suchte. 

Lesen Sie hier den ersten und zweiten Teil dieser dreiteiligen Serie:
"Hart aber ehrlich: Wie Assisi Franziskus prägte (Teil 1)"
"Schlicht und einfach groß: Wie Assisi Franziskus prägte (Teil 2)

Wild ist es hier draußen, auch 800 Jahre später noch. Es duftet nach Erde, Moos und Laub, die frische, kühle Luft rauscht wie ein kristallener Wildbach in die Lungenflügel. Sonnenstrahlen blinken durch die dichten, wogenden Baumkronen, darunter ist es düster, ringsum Wald, Wald, Wald. Kaum mehr als ein Trampelpfad führt zum Klösterchen, das erst Bernhardin von Siena im 15. Jahrhundert hier baute – um die Höhle herum, die Franziskus bewohnte von Zeit zu Zeit, von Fastenzeit zu Fastenzeit. Derer gab es damals weit mehr als heutzutage, und so verbrachte er rund die Hälfte des Jahres in solchen Einsiedeleien, in der Geborgenheit der Berge – im Tibertal, in Greccio und Le Celle etwa, womöglich auch in Subiaco, der „Ur-Höhle“ des abendländischen Mönchtums, in der Benedikt von Nursia 600 Jahre vor ihm „ganz bei sich wohnte“ und wo das älteste Fresko des heiligen Franziskus entstand, noch ohne Wundmale.

 

Blick in die Weite: Carceri

 

Heute kommen nicht eben wenige Assisi-Pilger nach Carceri und finden immerhin noch wohltuende Stille. Der Waldweg weist den Weg durch ein schmales Tor, und gleich hinter diesem Nadelöhr gibt das Klösterchen den Blick frei, tut sich unerwartet großer Reichtum auf: hinaus in endlosen Himmel und weit ins Umbrische Tal. 

Nicht ohne Grund: Franziskus wollte den Rückzug, aber keine Abgeschlossenheit. Vielmehr Abstand, um aus einiger Entfernung neu auf das zu sehen, wohin seine Mission ging: in die Welt, in die Städte, zu den Menschen. Alle seine Rückzugsorte sind so geöffnet in die Weite hinein. Und doch schwankte der Heilige lange hin und her, welcher Weg der seine wäre. Noch 1222, vier Jahre vor seinem Tod, als seine Gemeinschaft längst gewaltig gewachsen war, lässt er seine engsten Gefährten Klara und Silvester fragen, ob er sich ganz dem eremitischen Leben zuwenden solle. Die Schwester und der Bruder, die beide in der Stille leben – sie in San Damiano und er in den Carceri – machen Franziskus bewusst, dass sein Weg der Weg Jesu sei: sowohl unterwegs in den Dörfern – als auch zurückgezogen in einsame Orte.

 

Brüder werden „Mütter“

 

Anders als Benedikt von Nursia sind Franziskus und seine Brüder nie allein in diesen Refugien, sondern immer in kleinen Gemeinschaften, in denen allerdings jeder für sich ist. Franziskus will darüber hinaus, dass zu jeder dieser ausgesonderten Kommunitäten ein Bruder gehört, der die Stille-Brüder bekocht und umsorgt, für leichte Plaudereien zwischendurch da ist – und diese Brüder nennt er „Mütter“!

Ein neuer Stil der Gemeinschaft, orientiert am Wort Jesu im Evangelium vom Nadelöhr: Wer „Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker“ verlässt um seinetwillen, wird „Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker erhalten“ (Mk 10,28-30) – aber keine Väter mehr! Ganz so, wie Franziskus sich von seinen Eltern verabschiedete als Anfang seines Lebens in den Spuren Jesu. Seine Gefährten notieren, allen seinen Brüdern gemeinsam sei „von nun an ... unser Vater im Himmel“.

Der mütterlichen Zärtlichkeit und der geschwisterlichen Beziehung mit aller Schöpfung steht in der Spiritualität des Franziskus die Verbundenheit Jesu mit dem Vater gegenüber. Das ist der Höhepunkt, das ist der Gipfel des Lebens und des Weges des „kleinen Bruders“ in den Fußspuren des mensch­gewordenen Gottes. In La Verna, einem der besagten Rückzugsorte in der heutigen Toskana – erfährt er die äußerste Innerlichkeit der Verbundenheit mit Jesus.  

 

Blick ins Innerste: La Verna

 

1223 noch hatte Franziskus in Greccio intensiv die Geburt Jesu dargestellt – der Anfang aller Krippenfeiern –, neun Monate später geht ihm in La Verna, auf nacktem, windumtostem Felsen in 1200 Metern Höhe, der gekreuzigte Jesus derart intensiv am eigenen Leib auf, dass sich dessen Wundmale auf seinem Körper zeigen. Bis zu seinem Tod 1226 schweigt Franziskus darüber. Er ist der Erste in der Kirchengeschichte, von dem diese Stigmata überliefert sind – und doch bleiben sie Geheimnis. So, wie auch Gott für Franziskus immer Geheimnis blieb. Beides aber gehört für ihn zusammen: Menschwerdung und Tod Jesu. Beides hat Franziskus durchlebt, durchlitten. 

In der großen Wallfahrtsbasilika von La Verna ist die Kutte der Wundmale ausgestellt. In der kleinen, alten Kirche Santa Maria Maggiore daneben führt der Weg zum Gotteslob im Chorgestühl durch eine kunstvolle Schranke: links ist die Krippe dargestellt, rechts die Kreuzigung. – Der Weg geht hinein, der Weg geht hinaus. Für den, der glaubt, gibt es nicht den einen Ort zum Bleiben.

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