Ein Nachruf, ein Dank, ein Ausblick zum Tod des Dichters und Schriftstellers

Ins Stammbuch - Hans Magnus Enzensberger und pastorale Identität

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Einen "grundsätzlich Ungläubigen" nannte die "Zeit" den am 24. November gestorbenen Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Christoph Schulte sieht in seinem Werk zugleich "das Evangelium in Reinform". Was das für Seelsorgende heißen kann, schreibt der Pastoralreferent, Germanist und Journalist in einem ganz eigenen Nachruf.

Die 68’er Bewegung kenne ich nur aus dem Geschichtsbuch, nie war ich politisch links. Doch kein Gedicht begleitet mich seit fast 20 Jahren so beständig und intensiv wie Hans Magnus Enzensbergers 68er Ode Ins Lesebuch der Oberstufe. Als Enzensberger am 24. November diesen Jahres starb und die Meldung durch die Nachrichtenticker lief, hielt ich inne und sah alles wieder vor mir: Unser Deutsch-Leistungskurs-Lehrer händigte uns Abiturienten zum Abschied ein unscheinbares Zettelchen aus, aber sein nachdrücklicher Gesichtsausdruck verwies auf die Bedeutung. Dieses eine Gedicht war mir von da an ins Stammbuch geschrieben – auch für den pastoralen Dienst schöpfe ich daraus.

Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer. Als Enzensberger die Zeitschrift "Kursbuch" herausbrachte, hat er diese Haltung zum Programm gemacht: „Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen“, heißt es zur Aktualität der Zeitschrift in der Erstausgabe 1965. Das kann ein tragfähiges Programm sein für Seelsorgerinnen und Seelsorger: Die Dynamiken der post-modernen Gesellschaften heißen Volatilität, Ungewissheiten, Komplexität und Ambiguität. Der Vorteil der christlichen Kirchen sei, so die evangelische Theologin Claudia Enders, dass sie sich aufgrund des Evangeliums für die Offenheit der Zukunft stark machen können. Das Ungewisse genauer zu nehmen als alles vermeintlich Festes, was doch nicht hält. Das bedeutet ein Leben unter den Vorzeichen einer „prognostischen Unschärfebedingung“ (Karl Rahner). Was Bestand hat, ist der sich exterritorial gezeigte Gott vom Sinai, der Gott für alle; nicht zu bändigen im Dornbusch; vieldeutig in den Schöpfungstexten. Rhythmisch steht Enzensberger den Sprüchen Salomos nichts nach: „Sei weise, mein Sohn, und erfreue so mein Herz.“ (Sprüche, 27,11)

Misstrauen gegen die Mächtigen

Roll die Seekarten auf, eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht. Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust Zinken. Radikales Misstrauen gegen die Mächtigen steht hier im Raum – der durch und durch politische Enzensberger weckt in mir durch und durch das Kriterium für die Existenz: Das Evangelium, an dessen vielleicht politischster Stelle der Evangelist das Magnifikat der Maria setzt: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ (Lk. 1, 52) Da muss das Jesus-Gebet gedreht zur flehenden Forderung werden: Vater unser, heilige Deinen Namen, mach Deinem Namen Ehre! Und stürze Putin, stürze Kim Jong-Un, die Klima-Verpester,... – und erhöhe Deine Welt zum allumfassenden Schöpfungsfrieden Schalom!

Lern unerkannt gehen, lern mehr als ich: das Viertel wechseln, den Paß, das Gesicht. Versteh dich auf den kleinen Verrat, die tägliche schmutzige Rettung. Seit Wochen und Jahren beschäftigen uns die Migrations- und Staatsbürgerrechts-Debatten. Der Realitätscheck sagt: Das muss so sein. Enzensberger empfahl: „Noch den Rest von Naivität verteidigen.“ Für die Pastoral heißt das: „Der Glaube darf und soll singen, feiern und die Welt in vollen Zügen genießen. Aber er kann es nur, wenn er auch für die Armen, Marginalisierten und Bedrohten schreit, die in Not sind. Der Jubel des Glaubens darf den Schrei nicht ersticken“, so der Theologe Tiemo Rainer Peters. Mit den Unerkannten mitgehen und stur-naiv die großen Miniaturen des Lebens weitertragen, die nichts geben auf den Pass und das Viertel, in dem man aufwuchs – ein Beispiel: Überm Schreibtisch meiner Frau hängt dieses Kalenderblatt: „Der Enkel einer Freundin, der auf die Frage ‚Gibt’s bei euch im Kindergarten auch Ausländer?‘ antwortet: ‚Nein, nur Kinder.‘

Butter und Salz für die Wehrlosen

Christoph Schulte, hat Germanistik und Theologie studiert, war Journalist im Herder Verlag, ist Pastoralreferent und Ausbildungsreferent im Bistum Münster. | Foto: privat
Christoph Schulte, hat Germanistik und Theologie studiert, war Journalist im Herder Verlag, ist Pastoralreferent und Ausbildungsreferent im Bistum Münster. | Foto: privat

Nützlich sind die Enzykliken zum Feueranzünden, die Manifeste: Butter einzuwickeln und Salz für die Wehrlosen. In der "Zeit" (Nr. 49/2022) nannte Volker Weidemann den Dichter Enzensberger einen „grundsätzlich Ungläubigen“. Mag sein. Und kann doch nicht sein: Das ist das Evangelium in Reinform, die diakonische Grundformel: Das Leben ermöglichen ganz praktisch an jeder Tafel-Ausgabe dieses Landes – sodann das Alltagsgeschehen heiligen wie der Sohn eines Gottes: Trösten, segnen, heilen, Brot brechen und den Kelch kreisen lassen. Butter und Salz für die Wehrlosen heranschaffen, materiell und geistig – so habe ich den Nazaräer verstanden, und Franziskus und manche Pastoralreferentin, manchen Pastoralreferenten, manchen Priester. Dazu Viele mehr, die „mit Jesus und seinen Schülern bei Tisch lagen (...) Und sie folgten ihm nach“, heißt es in der Berufungsgeschichte des Levi. (Mk 2,15) Bloß gehört Levi nicht zum späteren Zwölferkreis, bemerkt der Neutestamentler Martin Ebner in seinem Markuskommentar, will heißen: Der Nachfolgekreis ist größer, offen, freier, weit. So viele, die zünden, die das Feuer entfachen können.

Wut und Geduld sind nötig, in die Lungen der Macht zu blasen den feinen tödlichen Staub, gemahlen von denen, die viel gelernt haben, die genau sind, von dir. Nach Enzensberger hat der viel gelernt, der „das Ewige des Flüchtigen“ im Blick hat, so Florian Illies ("Die Zeit", 49/2022). In Enzensbergers Lieblingsbild ‚Der Heilige Hieronymus im Gehäuse’ war es demnach eine kleine weiße Wolke statt des gebändigten Löwen.

Vertikal leidenschaftliche Seelsorge

Die Horizontale sei Enzensbergers Lieblingsposition gewesen, die Wolken im Blick: „Wahrscheinlich glauben sie / an die Auferstehung, gedankenlos / glücklich wie ich, der ihnen / auf dem Rücken liegend / eine Weile lang zusieht.“ Von Enzensberger lernen heißt: Leichter werden, sich nicht irritieren lassen: Gedankenvoll an die Auferstehung dessen glauben, der „König sein wird über das Haus Jakob in Ewigkeit“ (Lk 1,33), der wehrlos mächtig in Marias und Josefs Armen lag, als die Mächtigen schon unruhig wurden.

Mit beiden Beinen auf dem Boden, vertikal leidenschaftliche Seelsorge – und sich dann etwas Enzensbergersche Horizontale gönnen, die nie versiegende Hoffnung unbeirrbar im Blick.

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