Peter Frings kritisiert die Caritasverbände in beiden Teilen des Bistums Münster

Interventionsbeauftragter: Caritas muss Missbrauch endlich aufarbeiten

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Peter Frings ist seit April 2019 Interventionsbeauftragter des Bistums Münster in Fragen sexuellen Missbrauchs. Die Stelle wurde damals neu geschaffen. Zuvor war der Jurist lange Zeit Justiziar des Caritasverbands für die Diözese Münster. Von 1997 bis 2017 war er zudem Vorsitzender der Jugendhilfe-Einrichtung Vinzenzwerk in Münster-Handorf. In dieser Funktion war er 2010 mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in der Einrichtung befasst. Seither habe sich in den Caritas-Einrichtungen in Sachen Aufarbeitung nicht mehr viel getan, kritisiert er.

Seit mehr als zehn Jahren geht es um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Warum rückt jetzt erst die Caritas in den Fokus?

Weil sich dort seit zehn Jahren explizit mit dem Thema Aufarbeitung des Missbrauchs nicht viel getan hat. Als 2010 der Missbrauch durch einen Geistlichen im Vinzenzwerk in Handorf zum Thema wurde, wurde das intensiv in der Öffentlichkeit bearbeitet. Die Aufarbeitung in der Einrichtung geschah aber nur bis zu dem Punkt, an dem dieser einzelne Fall endete. Mehr gaben die Akten nicht her.  Seinerzeit haben Verantwortliche und auch ich selber mit Menschen gesprochen, die sich in der Folge als ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen gemeldet haben. Eine intensive Aufarbeitung, so wie das Bistum sie jetzt mit der Studie in Angriff genommen hat, gab es seinerzeit im Vinzenzwerk nicht. Es gab einen Bericht zur Historie der Einrichtung - aber das war keine Aufarbeitung. Auch die Frage, ob das, was damals in Handorf passiert ist, woanders auch passiert sein könnte, hat man an anderer Stelle meines Wissens nie gestellt.

Warum gehen Sie jetzt so offensiv auf die Caritas zu?

Bei der Vorstellung der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster hat Bischof Felix Genn deutlich gemacht, dass jetzt auch die kirchlichen Einrichtungen die Aufarbeitung angehen müssen. Ich bin froh, dass er das gemacht hat. Denn in der Studie kamen an einigen Stellen Caritas-Einrichtungen namentlich vor. Beim Bistum und auch bei mir haben sich Betroffene gemeldet, die Missbrauch in diesen Einrichtungen erfahren haben. Nach der Aufforderung des Bischofs ist die Aufarbeitung der Caritas jetzt nicht mehr nur eine Erwartung, sondern eine Verpflichtung – auch für mich. Ich muss jetzt Schritte einfordern.

Die wie aussehen?

Ich habe dem Vorstand des Diözesancaritasverbandes Münster und dem Direktor des Landescaritasverbandes Oldenburg einen Brief geschrieben, in dem ich deutlich gemacht habe, was der Bischof und ich in meiner Aufgabe als Interventionsbeauftragter des Bistums erwarten. Bis zum Jahresende muss das Ganze in der Caritas-Landschaft intensiv zum Thema gemacht werden – intern und nach außen. Es sollen sich Betroffene melden können, sie müssen dazu proaktiv ermutigt werden. Es darf keine Einrichtung mehr geben, die sagt: Dieses Thema gibt es nicht bei uns.

Gab es die?

Durchaus. Ich habe immer wieder Hinweise bekommen, dass das Thema Caritas und Missbrauch relevant ist. Ich erinnere mich an eine betroffene Person, die sich bei mir gemeldet hat. Ihr größter Wunsch war es, dass sie mit ihrer Geschichte endlich gehört und ihr geglaubt würde. Sie sagte: „Warum sprecht ihr immer nur über Priester? Ich bin Opfer eines Laien geworden!“ Ein anderer Betroffener berichtete mir, dass er nach der Kontaktaufnahme mit einer Einrichtung Flyer über die gute Präventionsarbeit der Caritas zugeschickt bekam. Mehr war nicht geschehen. Dieser Umgang muss sich ändern. Und dafür braucht es jetzt eine neue Form, auf die Menschen zuzugehen, sie aktiv dazu zu ermutigen, ihre Geschichten zu schildern. Und – das ist einfach wichtig - ihnen zu glauben.

Was macht Sie sicher, dass es mehr Fälle gibt?

Ich wehre mich dagegen, dass Missbrauch in allen Bereichen der Gesellschaft stattgefunden haben soll, aber nicht in Behinderten-, Jugendhilfe- und Altenhilfe-Einrichtungen oder Krankenhäusern der Caritas. Auch glaube ich nicht, dass es in der katholischen Kirche nur dort Missbrauch gab, wo Kleriker waren. Der Rest war nicht heile Welt. Es war auch ein Problem von Erzieherin, Pflegern und Betreuern. Das wissen wir schon aufgrund der Anträge auf Leistungen in Anerkennung des Leids. Die Caritas darf deshalb nicht sagen, dass Missbrauch allein ein Problem für den Domplatz ist.

Was genau muss die Caritas jetzt tun?

Es muss zum Beispiel in den Einrichtungen flächendeckend Ansprechpartner geben, mit denen unabhängig von der Leitung direkt Kontakt aufgenommen werden kann. Das darf auch nicht an personellen oder finanziellen Hürden scheitern. Wenn dann eine Aufarbeitung intern irgendwie verhindert wird, sollte direkt Kontakt mit mir aufgenommen werden können. Ich würde sofort bei der Einrichtungsleitung vorstellig und diese einfordern, da können Sie sicher sein. Ich bin da weisungsbefugt.

Besteht die Gefahr, dass die Kirche durch diese offensive Aufarbeitung den letzten Rest an Wertschätzung in der Gesellschaft verliert?

Ich bin immer noch leidenschaftlicher Caritas-Mensch. Gerade deswegen fordere ich diese Schritte ein. Denn ihre Aufgabe, an der Seite der Armen und Schwachen zu stehen, kann nicht an der Grenze zum Missbrauch enden. Im Gegenteil: Durch die Aufarbeitung zeigt die Caritas, dass sie diese Menschen ernst nimmt und ihnen die Möglichkeit bietet, ihr Erlebtes zu verarbeiten und Hilfen zu bekommen. Caritas darf nicht den Fehler machen, zu vertuschen und reinzuwaschen, wie es die Kirche lange Zeit gemacht hat. Das würde das Ansehen schädigen, nicht aber eine offene Auseinandersetzung.

In den Einrichtungen der Caritas leben Menschen, die ihre Erfahrungen vielleicht nicht so artikulieren können – etwa Menschen mit Behinderungen oder alte Menschen. Wie ist da die Rückmeldung der Opfer möglich?

Die Caritas hat hochqualifizierte Mitarbeitende, die ständig schauen, wie sie von den Bedürfnissen und Wünschen der Bewohner und Patienten erfahren können. Diese Professionalität wird auch in der Aufarbeitung des Missbrauchs helfen. Es gilt, die Aufmerksamkeit auf diesen Bereich, der scham- und angstbesetzt ist, zu erweitern. Das ist in den Einrichtungen absolut möglich.

Welches Ergebnis erwarten Sie von einer solchen offensiven Aufarbeitung?

Es werden wahrscheinlich keine tausende Fälle bekannt werden. Aber wenn es am Ende nur fünf Opfer sind, denen geholfen werden kann, sind das fünf Menschen, denen in ihrer schrecklichen Situation geholfen wird. Es geht auch nicht um Zahlen, sondern um eine neue Atmosphäre: Bei der Caritas ist es möglich, das Thema anzusprechen. Da muss niemand Angst haben, nicht gehört zu werden. Diese Ausstrahlung ist entscheidend. Und das muss für (ehemalige) Mitarbeitende genauso gelten wie für ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner.

Mit Blick auf die Orden, die in der Vergangenheit viele Einrichtungen geführt haben: Was erwarten Sie von ihnen?

Viele Orden tun sich nach meiner sicherlich begrenzten Wahrnehmung immer noch unglaublich schwer, das Thema offensiv anzugehen. Dort wird nichts angepackt, solange sie nicht gezwungen sind. Gehorsam, Angst und Pflichtgefühl verhindern das. Das müssen die Orden aber für sich regeln, das kann ihnen von außen keiner vorschreiben. Wenn eine Ordensschwester oder ein Ordensbruder aber von Vorgängen in den Caritas-Einrichtungen weiß, kann der Weg in die Aufarbeitung natürlich auch direkt über mich gehen.

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