Interview mit Jörg Hagemann über Kirchenaustritte von engagierten Gemeindemitgliedern

Münsters Stadtdechant: Diesen Kirchen-Exodus kann ich kaum aushalten

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Mehr als 3.500 Menschen aus dem Münsterland sind laut WDR in den ersten drei Monaten aus der Kirche ausgetreten. In der Stadt Münster seien alle Termine beim Amtsgericht bis Ende Juni ausgebucht. Inzwischen gehen auch engagierte Gemeindemitglieder. Stadtdechant Jörg Hagemann im Interview über Gründe, Konsequenzen - und warum auch er öfter an seine Pensionierung denkt.

Herr Hagemann, was sagen Sie als Münsters Stadtdechant zu der Welle von Kirchenaustritten auch im angeblich so katholischen Münsterland?

Ich bin wirklich fassungslos und traurig darüber. Ich stehe davor und denke: Um Himmels willen! Denn es sind ja viele Menschen dabei, die bei uns Heimat hatten und eigentlich auch weiterhin haben möchten. Für mich ist es kaum aushaltbar, dass so viele nicht mehr bei uns bleiben können oder wollen.

Tatsächlich treten nicht nur Steuersparer aus der Kirche aus, sondern engagierte Menschen aus der Mitte der Gemeinden. Wie erleben Sie das in Ihrer Pfarrei?

Recht unterschiedlich. Es gibt sicherlich jene, die sagen: Ich kann und will nicht mehr. Ich erlebe den Austrittswunsch aber auch bei Religionslehrerinnen und -lehrern, für die eine solche Entscheidung ja berufliche Folgen hätte. Dann gibt es auch Austrittswillige, die das „System“ einfach nicht mehr unterstützen wollen, aber sehr wohl die gesparte Kirchensteuer in kirchliche Projekte investieren, die sie für authentisch halten. Es wird sicher auch viele geben, die schon länger nichts mehr mit der Kirche zu tun hatten und die jetzt klar sagen: Zu dieser „Täter-Organisation“ will ich nicht mehr dazugehören.

Was sind Ihrer Erfahrung nach die häufigsten Gründe für diesen Schritt?

Nach meinem Eindruck geht es nicht mehr um einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat – da ist ein ganzer Eimer obendrauf gekommen. Das sind ganz offensichtlich die ganzen kritischen Punkte, die schon seit Langem auf dem Tisch liegen: der Umgang mit Missbrauch, mit Macht, die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, der Sexualmoral, der Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren, die Frage danach, wer was in unserer Kirche werden darf. Diese Themen werden in der normalen sozialen Wirklichkeit vieler Menschen gänzlich anders gelebt als in der Kirche und haben entsprechend mit ihren Grundauffassungen nichts mehr zu tun. Ich gebe zu, dass ich manches wirklich sehr gut verstehen kann.

Was antworten Sie Menschen, die sagen: Jetzt reicht’s, ich gehe - wenn auch schweren Herzens?

Ich werbe dafür, trotzdem zu bleiben. Da bin ich vielleicht etwas blauäugig. Aber ich sehe die römisch-katholische Kirche als mehr denn nur eine Organisationsstruktur. Ihr Auftrag ist es, etwas von Gott sichtbar werden zu lassen. Aber ich nehme auch wahr, was Bischof Franz-Josef Overbeck vor einiger Zeit in einem Brief an seine Pfarreien sinngemäß geschrieben hat: Wir müssen als Kirche aufpassen, dass wir den Weg zu und den Blick auf Christus nicht verbauen. Weiter bitte ich um Vertrauen dafür, dass es Kräfte in der Kirche gibt, die Missstände angehen – idealerweise mit allen zusammen, auch mit denen, die jetzt gehen wollen. Nur so bringen wir Veränderungen geistgeführt weiter.

Was bedeutet dieser Exodus der Engagierten für die Kirche? Was ist zu tun?

Ich möchte eigentlich nicht unterscheiden zwischen den Engagierten und den Nicht-Engagierten. Sie alle sind Christinnen und Christen, sie alle sind Getaufte. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Exodus theologisch und praktisch eine Katastrophe ist! Denn es bedeutet: Wir werden unserem Auftrag, den Menschen ein Zeugnis von Gott zu geben, nicht gerecht. Wir müssen viel mehr zuhören – und Möglichkeiten des Miteinander schaffen. Bei den großen Themen braucht es auch definitiv Veränderungen. Zugleich muss die Kirche auch für die Menschen weiter Heimat sein, die Reformen für unnötig halten.

Sie bieten am 10. Mai einen Segnungsgottesdienst für homosexuelle Paare an - trotz Verbots des Vatikans. Glauben Sie, dass Sie so Menschen vom Austritt abhalten?

In unserer Pfarrei segnen wir schon seit vielen Jahren am Pfingstmontag Menschen, die sich lieben und Verantwortung füreinander tragen. Bislang war darunter kein homosexuelles Paar – aber natürlich hätte ich es gesegnet, wenn ein Paar gekommen wäre. Ich mache das nicht, um Menschen davon abzuhalten, aus der Kirche auszutreten. Vielmehr möchte ich ihnen ein Bild davon geben, was Gott ist: Gott liebt Menschen – und im Segen will er Menschen nahe sein.

Haben Sie auch schon darüber nachgedacht, die Brocken hinzuwerfen?

Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aus der Kirche auszutreten. Aber ich erwische mich dabei, dass ich manchmal darüber nachdenke, wie lange ich noch bis zur Rente brauche. Und das erschreckt mich total. Weil ich mit großem Engagement und tiefer Begeisterung in dieser Kirche bin – auch in diesem System Kirche, denn Kirche ist mehr als das, was wir alles falsch machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine Botschaft haben, die mehr ist als eine Institution – und die die Menschen, unsere Gesellschaft, die Welt im Moment unfassbar dringend braucht: Gott liebt jeden Menschen – egal ob alt oder jung, homosexuell oder heterosexuell.

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