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Der Münsteraner Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide schätzt die Taliban in Afghanistan heute gemäßigter ein als in den 1990er Jahren. Zum einen seien sie auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen, sagte Khorchide dem Kölner Online-Portal domradio.de. Als "offizielle Regierung" könnten sich die Islamisten nicht weiter mit Drogenhandel finanzieren. Zum anderen bräuchten sie Anerkennung im Volk, um ihr Regime stabil zu halten. Weit entfernt seien die Taliban jedoch von demokratischen Grundwerten.
Während der Machtübernahme hatten die Taliban unter anderem erklärt, Frauen bekämen im Rahmen des islamischen Rechtssystems Scharia Freiheiten zugestanden. "Scharia ist nichts anderes als die Summe der Interpretationen, der Auslegungen der Gelehrten, wie sie im jeweiligen Kontext den Islam verstehen", erklärte Khorchide. In den 1990er Jahren hätten die Taliban den Islam sehr restriktiv verstanden. Damals verboten sie unter anderem Musik und Fernsehen; Frauen durften nicht arbeiten.
Nüchternheit und Vorsicht geboten
Khorchide sieht Hinweise, dass sich die Islamisten in ihrem Denken weiterentwickelt hätten. So habe ein Sprecher erklärt, der Gelehrten-Rat werde über die Frage der Verschleierung entscheiden. "Allein, dass das keine entschiedene Sache ist und die Taliban selber sagen, sie wollten darüber diskutieren, das zeigt schon, dass sie offen sind für eine gewisse Dynamik", so der Islamexperte. Zugleich rief er zu Nüchternheit und Vorsicht auf. Gleichberechtigung von Mann und Frau oder demokratische Grundwerte werde es nicht geben.
Langfristig erwartet Khorchide Spaltungen innerhalb der Taliban. "Die, die an der Regierung bleiben, werden dann die eher Gemäßigteren sein, und andere zeigen sich als Hardliner." Afghanistan müsse diesen Prozess "von unten" durchmachen. Demokratisierung "von oben" funktioniere nicht. Der Wissenschaftler forderte Investitionen in Bildung und Aufklärung.