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Die Katho Münster hatte eingeladen zum Seminar „Option für die Armen“ – ein Begriff aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. In diesem Jahr war Klaus Mertes einer der Referenten. Mertes, Jesuit und ehemaliger Rektor am Berliner Canisius-Kolleg, hat maßgeblich zur Aufdeckung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche beigetragen.
Missbrauch ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Missbrauch ist aber auch Ausgrenzung, Vertuschung und Wegsehen. Pater Klaus Mertes, Jesuit und ehemaliger Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, hat bei einem Vortrag in der Katholischen Hochschule Münster diese Zusammenhänge scharf herausgestellt. Das systemische Ausmaß beim Missbrauch sei ihm aber erst im Kontakt mit den Betroffenen aufgegangen.
2010 hatten sich drei ehemalige Schüler bei Mertes gemeldet. Die Ex-Alumni wollten die Einladung zweier früherer Lehrer zur Feier ihres Abiturjahrgangs 1980 verhindern und erklärten Mertes, warum. „Damals hat sich für mich der innere Sinn einer hartnäckigen Gerüchtestruktur entschlüsselt“, erinnert sich der Jesuit. „Es machte klack, klack, und plötzlich verstand ich.“
Gerüchte um „Pater Pavian“
Jahrzehntelang hatten Teilnehmer bei Ehemaligen-Treffen über „Pater Pavian“ gelästert. „Ich wusste nicht viel, das Entscheidende war für mich neu“, erinnert sich Mertes an das Gespräch, bei dem er von den Taten erfuhr. Pater Pavian war bei den Schülern berüchtigt für seine exzessiven Prügelstrafen auf das nackte Gesäß, um anschließend die Wunden zu pflegen und zu küssen.
Vorbereitet war Mertes allerdings auf den Widerstand, der dieser Aufdeckung folgte. Durch einen völlig anderen Zusammenhang, nämlich den seines Mitbruders Ralf Klein. Klein hatte sich vor Jahren bei einer Synodalversammlung vor 300 Teilnehmern zu seiner Homosexualität bekannt. Eine Bekanntmachung mit verheerenden Folgen. Mertes erinnerte sich gut an Kleins Outing: „Danach habe ich erlebt, wie die Gewalt losging, gegen ihn und alle jene, die sich mit ihm solidarisierten. Es kam zum völligen Bruch von Beziehungen und Freundschaften.“ Man habe den Mitbruder aus dem Orden werfen wollen. „Alle haben die Gewalt und die Ausgrenzung gesehen. Und sie sagten nichts. Das war unglaublich.“
Was hat Armut mit Missbrauch zu tun?
Diskussion in der Katholischen Hochschule Münster. | Foto: Katholische Hochschule Münster
Diese Erfahrung habe ihn „elektrisiert“. Nach dem Gespräch mit den drei Ex-Schülern habe er sofort einen Brief an die rund 600 Ehemaligen der betroffenen Jahrgänge des Canisius-Kollegs geschickt. Ein Adressat wandte sich an die Presse. Mertes selbst hatte als Vertreter der Institution bewusst darauf verzichtet. Eine „Selbstinszenierung als Aufklärer“ kam für ihn nicht infrage.
Doch was hat Armut mit Missbrauch zu tun? „Arme sind Betroffene“, sagt Mertes. Jesus habe sich nicht als Fürsprecher der Reichen verstanden. Er habe Zöllner, Prostituierte, Obdachlose und Kranke um sich versammelt. „Jesus mag nicht jeden“, spitzt er zu.
Betroffene habe Geschichte zu erzählen
Er selbst sei früher Gegner der Befreiungstheologie gewesen, habe sie für eine Form des Kommunismus gehalten. Erst im Kontakt mit lateinamerikanischen Ordensleuten habe er verstanden, worum es geht. Dass die Kirche einen Perspektivwechsel vornehmen und sich auf die Seite der Armen stellen muss. Genauso sei es ihm im Kontakt mit den Missbrauchs-Betroffenen ergangen. „Ohne Kontakt gibt es kein Verstehen“, sagt er.
„Betroffene von Missbrauch haben eine Geschichte zu erzählen, die niemand gern hören will. Die Geschichten fordern zum Glauben auf.“ Die neutrale Position der Unschuldsvermutung habe er nach diesen Erzählungen nicht eingenommen und auch nicht die Strategie: „Jetzt muss ich erst die andere Seite hören.“ „Eine Missbrauchsgeschichte zu glauben, ist ein existenzieller Akt“, erklärt der Jesuit. Sie führe unweigerlich dazu, dass sich das eigene Beziehungsfeld verändert.
Kirche gehört zur Seite der Täter
Oft habe die Kirche einfach unterstellt, dass ein Täter nur ein Opfer bedeute. Die Idee, dass es weitere geben könnte, habe man ausgeblendet. Im Fall des Canisius-Kollegs hätten sich 130 Betroffene gemeldet. Mertes geht von einer Dunkelziffer aus. „Missbrauch ist keine Einzeltat, sie findet im Kontext statt.“ Mitbrüder hätten Tür an Tür mit den Peinigern der Kinder gelebt. Es sei unwahrscheinlich, dass sie nichts mitbekommen haben.
Der Jesuit spricht hier von „einem zuschauenden System“. Vertuschen, Wegsehen, Ausgrenzen, Schweigen seien ebenfalls Elemente des Missbrauchs. So auch die vielen halbherzigen Versuche der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche. Die Opfer stellten nämlich die traditionell helfende Rolle der Kirche infrage. Sie forderten Recht und Gerechtigkeit statt Hilfe. Deswegen müsse die Kirche endlich anerkennen, dass sie zur Seite der Täter gehört und nicht zur Seite der Opfer. Der „Jammerdiskurs“ müsse ein Ende haben. Es gebe keine Aufarbeitung, ohne das System grundlegend zu verändern.