1956 begann Wolfgang Steinhausen im Haus Maria Rast in Telgte

Jetzt ist Schluss mit Ehrenamt – nach 60 Jahren

Mehr als 60 Jahre war Wolfgang Steinhausen in Haus Maria Rast in Telgte ehrenamtlich aktiv. Jetzt beendet er diesen außergewöhnlichen Einsatz, der in einem Barackenlager vor den Toren der Stadt begann.

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Als Wolfgang Steinhausen 1956 als Lehrer in der katholischen Volksschule in Telgte anfing, gab es dort ein Barackenlager, das noch vom Reichsarbeitsdienst errichtet worden war. Nicht direkt in Telgte, ein paar Kilometer nördlich davon, ungefähr dort, wo heute die Bundesstraßen 51 und 64 aufeinandertreffen. Bewohnt wurden sie von Flüchtlingen aus dem Osten Europas.

Der Propst von Telgte ließ kurz darauf die Lehrerschaft zu sich kommen und fragte, wer sich der Menschen dort annehmen könne. „Alle schauten irgendwo hin, um keinen Blickkontakt zum Propst zu haben und ausgewählt zu werden“, erinnert sich Steinhausen. „Auch ich.“ Ihn traf es trotzdem. Mit der einfachen Begründung des Propstes: „Sie sind der Jüngste hier und haben keine Familie.“

 

Wasser tropft von der Decke

 

Dass sich aus diesem Auftrag ein Engagement entwickelte, das mehr als 60 Jahre bis in die heutigen Tage reicht, konnte Steinhausen nicht ahnen, als er sich am Nachmittag auf sein Rad setzte und hinüberfuhr. Sein erster Eindruck hinterließ Spuren. „Die Menschen dort lebten unter erbärmlichen Verhältnissen, die Bauten waren marode, durch die Decken tropfte Regenwasser.“ Er stellte sich als Helfer vor, der von der Pfarrgemeinde geschickt worden sei. Die Antwort der Bewohner rüttelte ihn wach: „Schön, dass endlich mal jemand kommt und nach uns schaut.“

Denn genau das war das Problem, sagt Steinhausen im Rückblick. „In den Köpfen der Menschen in Telgte existierte die Einrichtung nicht – die wenigen Kilometer reichten, um nicht auf ihrer Landkarte zu erscheinen.“ Genau darin lag nun der Ansporn des damals 24-Jährigen. „Es war höchste Zeit, dass sich die Verhältnisse im Lager und das Verhältnis der Bürger von Telgte der Bewohner zu änderten.“

 

Quantensprung an Lebensqualität

 

Monika Manthey
Einrichtungsleiterin Monika Manthey geht Ende August ebenfalls in den Ruhestand. | Foto: Michael Bönte

Die Wohnsituation verbesserte sich schon bald außergewöhnlich, als in direkter Nachbarschaft ein Haus für die etwa 120 Bewohner gebaut wurde. Die Katharinenschwestern übernahmen die Leitung. „Und die alten Menschen waren einfach nur glücklich“, sagt Steinhausen. „Es war ein Quantensprung für ihr Leben.“ Er selbst fuhr immer noch regelmäßig dorthin, um zu besuchen, zu sprechen, zuzuhören. „Mein Auftrag von der Pfarrgemeinde war ja ziemlich undifferenziert – ich sollte mich einfach nur kümmern.“

Das tat er von da an, nun mehr als 60 Jahre, ehrenamtlich, in veränderten Aufgaben, mit wachsender Verantwortung. Am Anfang waren es neben den regelmäßigen Besuchen vor allem kleine Alltagshilfen. „Sie bekamen nur sonntags Bohnenkaffee und fragten mich, ob ich daran etwas ändern könne“, erinnert er sich an ein Beispiel. Konnte er, denn ein Freund von ihm arbeitete damals bei Kaffee Hag in Bremen.

 

Bohnenkaffee in kleinen Tüten

 

Und dann erzählt Steinhausen von einer Idee, die seinen Einsatz all die Jahre prägen sollte: „Der Kaffee wurde in kleine Tüten verteilt, die meine Schüler nachmittags auf den Dreibettzimmern verteilte." Die Freude über den Besuch war bei den Bewohnern mindestens genauso groß wie über den Bohnenkaffee. Genau das war seine Absicht: „Ich wollte Kontakt herstellen, das Altenheim aus seinem Randdasein holen.“ Das klappte. Die Kinder erzählten daheim von ihren Erlebnissen und den Gesprächen. „Und plötzlich kannten die Menschen in Telgte das Haus Maria Rast.“

Steinhausen wurde Anfang der 1960er Jahre in das Kuratorium des Hauses aufgenommen. Auch dafür war die Begründung simpel, erinnert er sich. „Als Lehrer können Sie ja lesen und schreiben, sagte der damalige Geschäftsführer.“ Als die Ordensschwestern weniger wurden, brauchte es in den 1980er Jahren einen neuen Träger. Die Caritas übernahm. „Und ich war mein Ehrenamt im Kuratorium los.“ Nicht ohne sofort ein neues zu übernehmen. Er wurde Heimfürsprecher und kümmerte sich offiziell um die Vertretung der Bewohner-Interessen gegenüber der Leitung des Hauses.

 

Wandelndes Geschichtsbuch

 

„Die Vergangenheit des Hauses ist unfassbar präsent, wenn Herr Steinhausen davon berichtet“, sagt Monika Manthey. „Er ist ein wandelndes Geschichtsbuch.“ Die Leiterin des Hauses geht Ende August zeitgleich mit ihm in den Ruhestand, nach 21 gemeinsamen Jahren. „Er hat mich damals mit seiner Erfahrung quasi in meine Aufgaben eingeführt, war von Anfang an ein wichtiger Begleiter und Ratgeber“, sagt die 62-Jährige. Und beschreibt ein Ritual, das für die gute Zusammenarbeit steht: „Jeden Dienstagnachmittag haben wir hier im Haus zusammengesessen und besprochen, was in Haus Maria Rast gerade anliegt – bis heute.“

Es wurde diskutiert, aber nie wirklich gestritten, sagt Manthey. „Wir hatten ja immer dasselbe Ziel: das Beste für die Bewohner.“ Und das musste mit immer neuen Rahmenbedingungen zurechtkommen, die Organisation und Finanzierung stark belasteten. Neubauten, Pflegesatz-Änderungen, neue Personalschlüssel oder Spezialisierung in Fachbereichen wie etwa die Pflege von demenzerkrankten Bewohnern sind nur einige davon. „Da war es schon toll, einen so erfahrenen Heimfürsprecher an meiner Seite zu wissen.“

 

Ehrenamt auch als Pensionär

 

Foto-Erinnerungen an den Flurwänden
Foto-Erinnerungen an den Flurwänden in Haus Maria Rast: Wolfgang Steinhausen mit dem Knabenchor, mit dem er in den 1960er Jahren regelmäßig das Altenheim besuchte. | Foto: privat

Denn der hatte mit seiner Pensionierung als Lehrer sein Ehrenamt nicht abgegeben. „Ich war hier so tief verwurzelt, ich wollte unbedingt weitermachen.“ Zu viele Erinnerungen an Begegnungen und Ereignisse waren zusammengekommen, als dass er sich von seiner Aufgabe hätte lösen können.

Zum Beispiel das Orgelspiel in den Gottesdiensten in der Hauskirche, das er in früheren Zeiten übernommen hatte. „Einmal drückte mir eine Bewohnerin mit zittrigen Händen ein vergilbtes Stück Papier mit Noten in die Hand.“ Ob er auch einmal das Ostpreußen-Lied spielen könne. Im Anschluss an eine heilige Messe stimmte er also „Land der dunklen Wälder“ an und sah viele in der Gottesdienstgemeinde Tränen vergießen. „So etwas vergisst du nie.“

 

Gutes für die alten Menschen

 

Es war das Gefühl, den alten Menschen im Haus „etwas Gutes zu tun“, das ihn all die Jahre durch seine Aufgaben trug, sagt Steinhausen. Dazu gehörten auch die vielen Kontakte, die er nach außen knüpfen konnte. Als die Parkanlagen erneuter wurden, besorgte er Baumsetzlinge von einem benachbarten Bauern und aktivierte seine Schüler für die Pflanzaktion. „Die brachten ihre Väter mit, und schon waren wieder Menschen ins Haus Maria Rast gekommen, die sonst immer vorbeigefahren waren.“

Viele solch kreativer Ideen entwickelten Manthey und Steinhausen gemeinsam, um den sich ändernden Ansprüchen in der Altenpflege gerecht zu werden. Ehrenamtliche Kräfte zu finden und zu motivieren, gehört dazu. Derzeit sind es etwa 40, die sich in unterschiedlichen Formen in den Alltag des Hauses einbringen. „Besuchsdienste, Zeitungslese-Stunden, Spaziergänge, Nähstunden, Wortgottesdienste…“, zählt Manthey auf. „Das bringt große Lebensqualität.“

 

Alternativen für die frei werdende Zeit

 

In Zukunft wird das alles ohne ihre Leitung geschehen. Und ohne Unterstützung von Steinhausen, der sich fest vorgenommen hat, erst einmal Distanz zu halten. „Nicht weil ich es hier plötzlich nicht mehr schön finde, sondern weil ich meinen Nachfolger in Ruhe arbeiten lassen möchte.“ Er selbst hat durchaus Alternativen für die frei werdende Zeit: „Reisen mit meiner Frau durchs Münsterland.“ Vor allem dem Westen der Region möchten sie einige Besuche abstatten. 

Er wird trotzdem im Haus Maria Rast präsent bleiben. Allein auf den historischen Fotos, die an den Wänden der Flure hängen, ist er oft zu sehen – im Gespräch mit Bewohnern, in der Mitte des Kinderchors, mit dem er oft ins Haus kam, oder bei Festen, auf denen er moderierte. Ebenso präsent wird er sicher in den Köpfen der Bewohner und Mitarbeiter bleiben, die ihn zum Teil seit vielen Jahren kennen.

 

Kopierte Abschiedsrede

 

In seiner Abschiedsrede sind genau die seine Adressaten. Er hat seine Worte aufgeschrieben, auch weil das große Fest wegen der Corona-Situation ausfallen muss. „Die Zeilen werden kopiert und im Haus verteilt.“ Dort sollen seine Gedanken ankommen: „Für die Menschen hier habe ich den Dienst geleistet, sie waren und sind ein Geschenk – diesen Gedanken werde ich mitnehmen in meine Zeit danach.“ Nach mehr als 60 Jahren Ehrenamt.
 

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