Jüdische Gemeinden wünschen sich „Normalität“ im Alltagsleben

Jüdischsein heute: Mehr als Shoah, Antisemitismus und Israel-Politik

  • Jüdische Gemeinden wünschen sich „Normalität“ im Alltagsleben und keine Verengung auf Themen wie die Shoah, den Antisemitismus oder die Politik Israels.
  • Bei einem Gespräch in Dorsten wurde deutlich, dass der Antisemitismus in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat.
  • Das diesjährige Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mit seinen vielen Veranstaltungen bedürfe der Nachhaltigkeit, meint die Leiterin des Jüdischen Museums Westfalen, Kathrin Pieren.

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Die Jüdischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen stellen weiterhin antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung und eine Zunahme antisemitischer Straftaten fest. „Es ist leider notwendig, dass wir Juden die Abscheulichkeit des Hasses aufzeigen müssen. Dabei ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Antisemitismus zu bekämpfen“, sagte der Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Alexander Sperling, bei einer Diskussionsrunde über das „Jüdischsein heute“ im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten.

Auch wenn es in Deutschland eine hohe Solidarität mit den Jüdischen Gemeinden und Einrichtungen gebe, wäre es ermutigender, die Ursachen von Antisemitismus klarer zu benennen und entschiedener zu bekämpfen, sagte Sperling. Gerade an den Schulen müsste mehr gegen antisemitische Tendenzen getan werden.

Demonstration vor Synagoge in Gelsenkirchen

Dass unverhohlener Antisemitismus eine Gemeinde in Angst und Schrecken versetzen kann, davon berichtete die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach. Bei einer Demonstration im Mai 2021 waren rund 200 Menschen zur Gelsenkirchener Synagoge gezogen und skandierten antisemitische Parolen.

Vor dem Hintergrund einer Gewalteskalation zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas gab es damals in Deutschland mehrere anti-israelische Proteste mit teils antisemitischen Ausschreitungen. Die Demonstration in Gelsenkirchen löste bundesweit Entsetzen aus.

Angst, jüdische Identität zu zeigen


Vier ineinander zum sechszackigen Davidstern verschränkte Arme in den Farben Rot, Orange, Hell- und Dunkelblau bilden das Logo der bundesweiten Initiative „Zusammen gegen Antisemitismus“.

„Wir haben nach der Demonstration sehr viel Solidarität erfahren. Dennoch haben Gemeindemitglieder Angst, offen ihre jüdische Identität zu zeigen“, sagt Neuwald-Tasbach.

Die Gemeinde-Vorsitzende sprach aber auch vom normalen jüdischen Alltagsleben, von den Festen und Feiern und dem selbstverständlichen Zusammenleben mit der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die Gemeinde sei im Kulturleben der Stadt integriert, die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sei aktiv, es gebe viele Konzerte und Besuche in der neuen Synagoge.

Gute Zusammenarbeit mit Schalke 04

Besonders hob Neuwald-Tasbach die gute Zusammenarbeit der Gemeinde mit Schalke 04 hervor. „Der Verein unterstützt seit vielen Jahren Projekte gegen Antisemitismus. Wir haben ein gutes Verhältnis zu den Fangruppen und unternehmen viel gemeinsam“, sagte die gebürtige Gelsenkirchenerin, die selbst so oft es geht ins Stadion geht und noch gut die alte Glückauf-Kampfbahn kennt.

Wie Sperling und Neuwald-Tasbach wünscht sich auch die 23-jährige Anna Kosar ein „normales jüdisches Leben“, ohne sofort auf die Shoah, den Antisemitismus und die Israel-Politik reduziert zu werden. „Was habe ich mit der Politik Israels zu tun?“, fragte Kosar in die Diskussionsrunde.

Jüdische Campus-Woche in Köln

Kosar ist Gründungsvorsitzende des Jüdischen Studierendenverbands Nordrhein-Westfalen. Als sie fünf Jahre alt war, wanderte ihre Familie aus der Ukraine nach Deutschland aus. Sie wuchs in Mönchengladbach auf, lernte in Köln dann andere jüdische Studierende kennen und schloss sich der Jüdischen Hochschulgruppe an.

„Wir möchten etwas für junge Menschen tun. Wir definieren uns nicht so sehr über die Religion. Wir möchten einfach nur normal leben, Feste feiern, etwas organisieren, wie die jüdische Campus-Woche. Wir möchten nicht, und das tun wir auch nicht, Antisemitismus-Debatten führen“, sagte Kosar.

„Was weiß ich über Israel?“

Auch sie hält es für wichtig, in den Schulen die Bildung zur jüdischen Geschichte und Gegenwart zu verbessern. Ein Grundwissen über das Judentum helfe, vernünftig miteinander ins Gespräch zu kommen: „Israel wird immer gern in den Fokus einer Diskussion gerückt. Wie kann ich aber als Kölner Studentin mit jüdischer Religion überhaupt Expertin über Israel sein?“, machte sie Verständigungsfehler im Umgang miteinander deutlich.

Ein weiteres Beispiel nannte Judith Neuwald-Tasbach: Wenn im Schulunterricht ein Referat über die Shoah zu halten sei, werde zuerst der einzige jüdische Schüler der Klasse gefragt. Der kenne sich ja am besten mit diesem Thema aus. „Das zeigt, dass Jüdischsein zum Teil noch eine Sonderrolle zu spielen hat.“

Zuwanderung aus Osteuropa

Dass sich das jüdische Leben in Nordrhein-Westfalen in den letzten 30 Jahren nach der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion merkbar verändert hat, verdeutlichte Sperling: 90 Prozent der deutschen Jüdinnen und Juden hätten einen Migrationshintergrund und stammten aus Osteuropa. Lebten in ganz Westfalen in den 1980er Jahren 700 Juden, so sind es heute etwa 6.000, bei bundesweit 100.000 Menschen jüdischer Religionszugehörigkeit.

Seit den 1990er Jahren sind in Westfalen sieben neue Synagogen gebaut worden, unter anderem in Bielefeld (2008), Bochum (2007), Gelsenkirchen (2007) und Recklinghausen (1997). „Juden haben wieder eine Zukunft in Deutschland. Die Integration der vielen Zuwanderer in den 1990er Jahren darf man rückblickend als Erfolgsgeschichte bezeichnen“, sagte Sperling.

Festjahr braucht Nachhaltigkeit

Über das diesjährige Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sagte die Leiterin des Jüdischen Museums Westfalen, Kathrin Pieren, zum Abschluss der Gesprächsrunde: „Die vielen Veranstaltungen haben die jüdische Vielfalt in Deutschland sichtbar gemacht und ihr eine Stimme verliehen. Dabei fielen durchaus kritische Voten bezüglich der deutschen Erinnerungskultur und der Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden als ‚die anderen‘.“

Diesen Einsichten müssten Taten folgen, etwa bei Gedenkveranstaltungen im nächsten Jahr und danach, „damit das Festjahr gewirkt hat“, meinte Pieren.

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