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Wegen der Fälle sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche mehren sich Rufe, das Beichtgeheimnis aufzuweichen. In Australien gibt es bereits Gesetze in Bundesstaaten, in Frankreich werden sie gefordert. Der promovierte Jurist Oliver Rothe arbeitete lange Jahre in einer internationalen Anwaltssozietät, bevor er 2013 Priester des Bistums Münster wurde. Vor kurzem schloss er sein kirchenrechtliches Licentiat mit einer Arbeit über den Schutz des Beichtgeheimnisses ab. Angriffe darauf hält er für „schlichte Symbolpolitik“. Warum eine Aufweichung nichts bringt und was der kirchlich bessere Weg wäre, sagt er im Interview mit „Kirche-und-Leben.de“.
Herr Rothe, Der Bonner Rechtsexperte Gregor Thüsing hat das Beichtgeheimnis als einen „Fremdkörper im säkularen Staat“ bezeichnet. Warum und wie schützt es der Staat überhaupt?
Das Beichtgeheimnis steht nicht über oder neben der Verfassung, sondern ist integraler Bestandteil des Grundgesetzes. Der Staat schützt das sogenannte Beichtsiegel insbesondere durch das Zeugnisverweigerungsrecht des Priesters. Danach muss der Priester nichts aussagen über das, was ihm in seiner Funktion als Seelsorger bekannt geworden ist. Aus staatsrechtlicher Sicht steht der Schutz des Beichtsiegels nicht zur Disposition. Zu diesem Schutz hat sich der Staat im Konkordat, also im Vertrag mit dem Heiligen Stuhl, verpflichtet. Dementsprechend kann der Staat diese vertragliche Verpflichtung nicht einseitig auflösen.
Außerdem garantiert unser Grundgesetz diesen besonderen Schutz. Die Grundlage für den Geheimnisschutz ist das Recht auf private Lebensgestaltung, wie es das Bundesverfassungsgesetz aus dem Grundgesetz ableitet. Es gewährt dem einzelnen Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der jeder Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist. Das Zeugnisverweigerungsrecht, von dem ich eben sprach, ist damit eine gesetzliche Konkretisierung des Grundgesetzes, die den privaten Geheimhaltungsinteressen vor allem des später Beschuldigten Rechnung trägt. Das Zeugnisverweigerungsrecht ist ferner aufgrund des Grundrechts auf Religionsausübungsfreiheit als spezifischer Schutz für den Geistlichen erforderlich.
Könnten die zahlreichen Fälle sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche daran etwas ändern?
Der Eingriff in eines dieser Grundrechte könnte unter keinen Umständen gerechtfertigt sein, das wäre unverhältnismäßig. Die Verhältnismäßigkeit ist nur dann gegeben, wenn wir nachweisen könnten, dass durch ein Gesetz, das das Beichtsiegel aufhebt oder lockert, der Kindesmissbrauch verhindert werden kann – aber das ist nicht möglich. Sofern ein Priester gesetzlich verpflichtet wäre, das in der Beichte erlangte Wissen im Fall von Kindesmissbrauch weiterzugeben, würden weder Täter noch Opfer das vertrauensvolle Beichtgespräch suchen.
Welche kirchenrechtlichen Konsequenzen hätte es, wenn ein Priester eine Straftat anzeigt, von der er in der Beichte erfährt?
Der Priester wäre durch Begehung dieser Tat unmittelbar exkommuniziert. Die Apostolische Pönitentiarie hat dies mit Schreiben als Reaktion auf die Absichten des australischen Gesetzgebers vom Juni 2019 nochmals bekräftigt. Diese von selbst eintretende Exkommunikation ergibt sich aus Can. 1388 § 1 CIC. Es bedarf dazu keines Urteils.
Müssten angesichts von Vertuschung die kirchenrechtlichen Bestimmungen zum Beichtgeheimnis geändert werden?
Ich halte es nicht für sinnvoll, die kirchenrechtlichen Vorschriften bezüglich des Beichtsiegels zu ändern oder zu lockern. In vielen Fällen ist das Beichtgeheimnis die Garantie für den Gläubigen, dass er sich in einer schweren Notlage einem Priester öffnen kann. Bislang kann die Kirche immer darauf verweisen, dass dieses Siegel tatsächlich nicht gebrochen werden kann, also absolut ist.
Wenn die Kirche Ausnahmen machte, wäre dieser absolute Schutz gebrochen, was zur Verunsicherung führen würde und hilfebedürftigen Menschen einen wertvollen Schutzraum nähme. Selbst wenn die Kirche die Vorschriften lockerte, würden Fälle sexueller Gewalt nicht verhindert oder aufgeklärt, da weder Täter noch Opfer beichten würden, wenn sie um die „Löchrigkeit“ des Beichtsiegels wüssten. Vielmehr entfiele dadurch die einzigartige Möglichkeit des Priesters, sich in einem Beichtgespräch dafür einzusetzen, dass der Täter sich den Ermittlungsbehörden stellt.
Also sollte alles so bleiben, wie es geregelt ist?
Handlungsbedarf besteht für die Kirche auf anderer Ebene: Die Kirche ist mehr denn je verpflichtet, ihre eigenen Strukturen dahingehend zu verändern, dass sexualisierte Gewalt durch Priester nicht mehr vorkommt. Nur wenn die Kirche hier effektive Maßnahmen setzt, kann sie verhindern, dass so wertvolle Instrumente wie das Beichtsiegel ausgehöhlt und schutzlos gestellt werden.
Wenn ein Priester die Beichte eines Missbrauchstäters wegen des Beichtgeheimnisses für sich behält – macht er damit nicht weitere Missbrauchstaten möglich?
Im australischen Gesetzgebungsverfahren – dort wurden seit 2020 ähnliche Gesetze, wie sie jetzt in Frankreich geplant sind, auf Bundesstaatenebene erlassen – sind keine Fälle genannt worden, in denen man auch nur vermutet, dass durch eine Beichte eines sexuellen Missbrauchs – durch Täter oder durch Opfer – dieser oder andere hätten verhindert werden können. Es handelt sich um schlichte Symbolpolitik, um der kirchlichen Schwerfälligkeit bei der Aufklärung etwas entgegenzusetzen. Es handelt sich aber nicht um effektiven Opferschutz oder um das konstruktive Bemühen um Aufklärung und Bestrafung des Täters.
Das Beichtgeheimnis im katholischen Kirchenrecht
Can. 983 § 1: Das Beichtgeheimnis ist unverletzlich; dem Beichtvater ist es daher streng verboten, den Pönitenten durch Worte oder auf irgendeine andere Weise und aus irgendeinem Grund irgendwie zu verraten.
Can. 1388 § 1: Ein Beichtvater, der das Beichtgeheimnis direkt verletzt, zieht sich die dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Exkommunikation als Tatstrafe zu; verletzt er es aber nur indirekt, so soll er je nach Schwere der Straftat bestraft werden.