Anzeige
Sie zögert nur kurz, um dann den Kopf zu schütteln. „Diese Fragen habe ich mir so noch nie gestellt“, sagt Sarah Ostermann dann. Warum wird sie als Pastoralreferentin bald in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Dinslaken im Einsatz sein? Warum bei Menschen, die sich schuldig gemacht, anderen Leid zugefügt haben? „Ehrlich: Darüber brauche ich als Christin nicht lange nachdenken“, sagt die 26-Jährige. „Das ist ein Auftrag, der sich aus meinem Glauben heraus von selbst ergibt.“
Dass die gebürtige Niederrheinerin nach ihrer Beauftragung durch Bischof Felix Genn am 27. September in Münster den Weg an diesen Rand der Gesellschaft geht, ist nichts Neues für sie. Auch im Freiwilligen Sozialen Jahr und im Studium der Religionspädagogik waren es Menschen, die oft keine Lobby in der Gesellschaft haben, mit denen sie zusammenarbeitete – etwa Migranten und Obdachlose. „Wir Christen wollen dorthin gehen, wo andere nicht hingehen“, sagt Ostermann. „Gerade dort braucht es unsere frohe Botschaft.“
Unbekanntes Terrain
Als ihr vor einigen Monaten die Möglichkeit genannt wurde, nach ihrer Assistenzzeit in Ascheberg als Pastoralreferentin in die St.-Dionysius-Pfarrei in Duisburg-Walsum zu wechseln, und in unmittelbarer Nachbarschaft mit einer halben Stelle auch im Justizvollzug zu arbeiten, erbat sie sich dennoch etwas Bedenkzeit. „Ich bin nicht zusammengeschreckt, aber es war natürlich absolut unbekanntes Terrain.“ Die schwere Sicherheitstür einer solchen Anstalt hatte sie noch nie durchschritten. „Ich wollte erst in mich hineinhören, welche Ängste oder Vorurteile da sein könnten.“
Sie fand keine. Und so sagte sie zu. Aber nur unter der Bedingung, dass sie für ihren Einsatz noch einmal spezielle geschult würde. Ihre ersten Arbeitswochen im neuen Job verbrachte sie deshalb in der JVA für Frauen in Vechta, als Hospitantin an der Seite der dortigen Pastoralreferentin Josefine May. Diese Zeit war für sie sehr ereignisreich und hielt viele Überraschungen bereit.
Ungewohnte Geräusche, komisches Gefühl
„An die vielen Türen, die auf- und zugeschlossen werden müssen, muss ich mich immer noch gewöhnen.“ Das Geräusch der schweren Schlösser beschäftigte sie einige Tage. „Ein komisches Gefühl.“ Dahinter tat sich eine Welt auf, die aber weit weniger exotisch war, als der Blick von außen oft vermuten lässt. „Da triffst du Menschen, die eigentlich so sind wie du und ich“, sagt Ostermann. „Aber sie haben alle einiges durchgemacht – schwere Lebensbrüche erfahren, menschliche Abgründe erlebt, schmerzliche Wege hinter sich.“
Ihre wichtigste Aufgabe war schon während der Hospitanz das Gespräch mit den inhaftierten Frauen. Die suchten den Kontakt zur ihr von Beginn an. „Viele haben mir sofort großes Vertrauen entgegengebracht.“ Denn Seelsorge habe im System des Justizvollzugs eine wichtige Sonderstellung, erklärt Ostermann. „Was die Inhaftierten mir sagen, bleibt unter uns, da gilt eine Art Beichtgeheimnis.“ Eine Offenheit wird möglich, wie sie sonst im stark fremdbestimmten Vollzug nicht zu finden ist. „Genau das brauchen diese Frauen in ihrer Situation.“
Normalität bei Kaffee und Keksen
Die Inhaftierten suchten diesen Kontakt häufig, indem sie einen Antrag stellen, der dann im Postfach der Seelsorgerin landet. Mit dieser Information nahm Ostermann gemeinsam mit Josefine May Kontakt zu den Frauen auf und machte einen Termin mit ihnen aus. Dann ging es in das Büro der Seelsorger im Gefängnis. Ein Kaffee, ein Keks, manchmal fragten die Gäste, ob eine Kerze brennen könnte. „Sie suchen einen Moment der Normalität, einen Augenblick, der sie an ein freundschaftliches Treffen außerhalb der Mauern erinnert.“
Und dann kam oft alles auf den Tisch, was sie auf dem Herzen hatten. „Alles, was menschliches Leben ausmacht – da klingelten mir schon manchmal die Ohren“, sagt sie. „Anders als bei Gesprächen mit den Vertretern der Strafverfolgung, den Anwälten oder Psychologen, bei denen sie natürlich gehemmt sind“, weiß Ostermann. Meist wurde es sehr persönlich, die Lebenswege wurden weit zurückgegangen, existenzielle Fragen gestellt. Nach der Straftat selbst fragte Ostermann nie. „Sie erzählten in der Regel irgendwann von allein davon.“ Weil sie zur Lebensgeschichte dazu gehören, Resultat von Entwicklungen sind, Ergebnis von Ereignisketten. „90 Prozent der Täterinnen waren vorher selbst Opfer von Gewalt, Missbrauch oder Demütigung.“
Loslassen an der Burggräfte
Es wurde geweint. Aber auch viel gelacht, sagt Ostermann. „Das allein zeigt schon, wie tief wir in die Gefühlswelt der Frauen eintauchen können.“ Aber auch in die Gefühlswelt der Seelsorgerin. „Da nehme ich schon einiges mit, wenn sich am Abend die Sicherheitstür hinter mir wieder schließt.“ In Vechta hat sie sich dann an die Gräfte einer benachbarten Burg gesetzt, um durchzuatmen. „Es tat gut, mir klar zu machen, dass ich für diese Schicksale und deren weiteren Verlauf keine Verantwortung trage.“ Bei diesem Satz lächelt sie und zeigt kurz nach oben. „Das kann ich alles Gott anvertrauen.“
Sie ist sich bewusst, dass diese Gespräche im Leben der Inhaftierten trotzdem etwas ändern können. „Wer sich so offenbart, kann richtig Druck bei mir lassen.“ Sie nennt noch einen weiteren Effekt: „Wer seinen Weg in Worte fasst, beginnt zu reflektieren.“ Wenn die Frauen nach einer Stunde aufstehen, um in ihre Zelle zurückzukehren, haben sie vielleicht die eine oder andere Sichtweise hinzugewonnen, hofft Ostermann. „Nicht ich habe sie dann verändert, sondern die Situation, die wir geschaffen haben.“
Nur die Kulisse ändert sich
Das ist nicht ihre Taktik, ihr Plan, wenn sie auf die Frauen zugehen wird. Das Ziel, jemanden zu verändern, würde nicht zu ihrem Menschenbild passen. „Wenn ich in jedem Menschen auch Gott sehe, dann kann ich ihn nicht umgestalten wollen.“ Auch wenn die Straftat ein Teil dieses Menschen ist? „Ich muss die Tat nicht gut finden, um alles andere wertschätzen zu können.“ Mit dieser Einstellung hatte sie auch nicht das Gefühl, zwischen den Welten zu springen, wenn sie am Morgen ihr Handy an der Sicherheitskontrolle abgeben muss und sich auf ihren Weg durch die JVA begibt. „Die Kulisse ändert sich dann, nicht aber das Menschliche – das ist das gleiche, draußen wie drinnen.“
Sie sagt das alles offenherzig und verständnisvoll. Trotzdem hätte sie sich doch auch ein leichteres Aufgabenfeld wünschen können als einen „Einsatz hinter Gittern“, oder? Sie lacht über diesen Ausdruck, weil sich darin viel von den Vorurteilen gegenüber einer Justizvollzugsanstalt widerspiegelt, sagt Ostermann. Von den bekannten Bildern aus entsprechenden Fernsehserien hält sie nichts. Sie gibt aber zu, dass die Arbeit in einer solchen Umgebung „natürlich kein Klacks ist“. „Das soll Seelsorge aber auch nicht sein.“
Duisburg passt zu ihr
Wenn Ostermann in diesen Tagen ihren Dienst in der JVA für Frauen in Dinslaken beginnt, ist sie sich dessen bewusst. „Jedem Menschen, dem ich begegne, kann mich mit seiner Geschichte belasten.“ Das gelte aber nicht nur für die Frauen im Gefängnis, sondern auch für die anderen Bereiche, für die sie in der Pfarrei zuständig sein wird – etwa der Arbeit mit den Firmlingen oder in den Kindergärten.
Nicht nur über die neuen Aufgaben, auch über ihren neuen Einsatzort freut sie sich. „Duisburg passt irgendwie zu mir – ich wollte immer schon ins Ruhrgebiet.“ Vielleicht weil sie weiß, dass es in der Arbeiter-Großstadt ein gesellschaftliches Profil gibt, mit dem sie mit ihrem Menschenbild sicher viel anzufangen weiß.