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Wissen ist das beste Mittel gegen Vorurteile und Antisemitismus. Zum Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erläutert diese Serie Begriffe jüdischen Glaubens – diesmal von Therese Hansberger, Lektorin für biblisches Hebräisch an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
Das Kaddisch (aramäisch: „heilig“) ist das bekannteste Gebet im Judentum. Dies liegt vor allem daran, dass es ab dem Hochmittelalter zu dem Gebet geworden ist, das man für die Toten spricht. Auch viele Jüdinnen und Juden, die sonst nicht beten, beten es für ihre verstorbenen Angehörigen. „Kaddisch sagen“ ist eine wichtige Erfahrung jüdischer Existenz und ein zentraler Bestandteil jüdischen Selbstverständnisses.
Entwickelt hat sich das Gebet aus kurzen lobpreisenden Formeln, die in den Gemeinden der Spätantike synagogale Gebete, die Tora-Lesung oder das Bibelstudium abschlossen. Bereits die frühesten Textzeugen aus dem 9./10. Jahrhundert zeigen, dass der Text variiert werden konnte, und bis heute gibt es verschiedene Versionen und Formen des Gebets – als Zäsur oder Abschluss des Gottesdiensts, nach dem Studium oder im Kontext von Tod und Begräbnis. Die prominenteste Form ist das sogenannte Waisen-Kaddisch, das man während der Trauerzeit für einen nahen Verwandten spricht, für Eltern, Geschwister, Kinder oder Ehepartner. Bis heute wird es auf Aramäisch rezitiert.
Lobpreis des Namens Gottes
„Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt, die Er nach Seinem Willen erschaffen hat!“ Der eröffnende Ruf huldigt Gott und wünscht gleichzeitig, dass der Schöpfer durch seine Geschöpfe geheiligt, das heißt in seinem Willen anerkannt werden möge. Wie im christlichen Vaterunser folgt eine Bitte um das Kommen der Gottesherrschaft: „Er möge sein Reich aufrichten in eurem Leben und in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, rasch und in naher Zeit. Darauf sprecht: Amen!“ Die Gemeinde antwortet: „Sein großer Name sei gepriesen immerzu und bis in Ewigkeit!“
Diese Formel ist der Kern des Kaddisch: der Lobpreis des Namens Gottes. Der oder die Vorbetende nimmt sie auf und lässt sie in einer überbordenden Fülle an Synonymen weit ausschwingen: „Gepriesen und gelobt, verherrlicht und erhöht, erhoben und gerühmt, hocherhoben und besungen werde der Name des Heiligen, gepriesen sei Er, hoch über allem Preis und Lied, Lob und Trost, die in der Welt gesprochen werden. Darauf sprecht: Amen!“
Gebet in Gemeinschaft
Hier endet das Kaddisch, das Gottesdienste gliedert. Sonst schließt mindestens eine doppelte Friedensbitte das Gebet ab, zuerst auf Aramäisch, dann auf Hebräisch: „Frieden in Fülle komme vom Himmel, Leben für uns und für ganz Israel. Darauf sprecht: Amen! – Der Frieden schafft in den Höhen, er möge Frieden schaffen für uns und für ganz Israel. Darauf sprecht: Amen!“
Das Kaddisch spricht Gott nicht direkt an, es redet vor Gott über Gott. Direkt angesprochen werden die Mitbetenden: „Darauf sprecht: Amen!“ So kann man auch nie für sich allein Kaddisch sagen: Wie alle Gebete, die Gott für heilig erklären, setzt es die Anwesenheit von zehn religionsmündigen jüdischen Personen voraus. Dies heißt auch: Wer in Trauer das Kaddisch rezitiert, den nimmt die Gemeinschaft in ihre Mitte. Und wird ihm auch zugemutet, in Schmerz und Leid Gottes großen Namen zu preisen – das Amen sprechen andere, für ihn.
Anmerkung: Für eine kompakte Sprache verwendet dieser Beitrag teilweise das generische Maskulinum. Auch innerhalb des orthodoxen Judentums beten Frauen verbreitet Kaddisch.
Die Autorin
Therese Hansberger, Lektorin für biblisches Hebräisch an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. | Foto: A. Gärtner