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Die Tamilen-Wallfahrt ist die größte regelmäßige Einzelwallfahrt zu Maria nach Kevelaer. Doch wie kommt es, dass Menschen aus Sri Lanka an den Niederrhein pilgern?
Die DDR wird ihr Tor zur Freiheit. Als Justina und Thuraisingham Camillus 1983 erkennen, dass sie sich in ihrer Bürgerkriegs-Heimat Sri Lanka kein Leben aufbauen können, machen sie sich schon eine Woche nach ihrer Hochzeit auf die Flucht.
Dass sie dabei in Deutschland landen, sei nicht wirklich geplant gewesen, erzählt Thuraisingham Camillus gut 40 Jahre später. Die DDR ist eines der wenigen Länder, in die Tamilen wie sie Mitte der 1980er Jahre ohne Visum einreisen können.
Ein Tag DDR
Also kaufen sie ein Ticket und landen in Ost-Berlin. „Aber nur für einen Tag“, erinnert sich Camillus. Dann müssen Justina und er weiter nach Westdeutschland.
Dass die DDR die Bundesrepublik mit unkontrolliert über die Grenze geschickten Flüchtlingen unter Druck setzt, kann dem jungen Paar damals egal sein. Dabei hätten sich die DDR-Grenzer diese Praxis in ihrem Fall vielleicht noch einmal überlegt, wenn sie geahnt hätten, dass Camillus drüben mal eine der größten katholischen Marienwallfahrten organisieren wird.
Wunsch nach tamilischen Messen
Aber der Reihe nach. Nach verschiedenen Stationen landet das Paar im Dezember 1984 in Oberhausen, mit nicht viel mehr im Gepäck als der Anerkennung als Flüchtlinge. „Wir hatten kein Geld und keine richtige Kleidung – wir waren ja ein ganz anderes Klima gewohnt“, sagt Camillus.
Zudem dürfen sie fünf Jahre lang nicht arbeiten. Sie nutzen die Zeit für Deutsch-Kurse und Thuraisingham macht sich auf die Suche nach einem katholischen Gottesdienst in tamilischer Sprache.
Die tamilischen Gemeinden entwickeln sich
Auf Sri Lanka sind die überwiegend katholischen Christinnen und Christen in ihrer Bevölkerungsgruppe zwar eine Minderheit. Aber mit dem stetig wachsenden Strom Geflüchteter kommen auch immer mehr christliche Tamilen nach Deutschland.
Mit seinem Wunsch nach tamilischen Messen findet Camillus im Katholischen Stadthaus Oberhausen beim langjährigen Geschäftsführer Hermann-Josef Wagner schnell Gehör. Im Ruhrgebiet hat die Kirche seit Jahrzehnten Erfahrung mit Zugewanderten, die sich trotz erfolgreicher Integration mit ihrem Glauben auch ein Stück Heimat bewahren.
„Schon einen Monat später haben wir einen ersten Gottesdienst mit einem Priester aus Köln gefeiert“, berichtet Camillus. Später kommt ein anderer Geistlicher aus Osnabrück; nach und nach wächst in Oberhausen und Umgebung eine eigene Seelsorge in tamilischer Sprache. Um 1990 gibt es neben der Gemeinde in Oberhausen bundesweit neun weitere tamilische Gemeinden, vor allem in NRW. Heute sind es um die 40.
Kevelaer erinnert an Madhu in Sri Lanka
1986 kommen die Eheleute Camillus zum ersten Mal nach Kevelaer. „Der Pfarrer von St. Pankratius in Osterfeld hat uns gefragt, ob wir nicht mitkommen möchten“, berichtet Thuraisingham Camillus. Leichter gesagt als getan, denn erst einmal musste Stadthaus-Geschäftsführer Wagner die nötigen Papiere besorgen, damit die tamilischen Geflüchteten die Stadt verlassen durften.
In der Kerzenkapelle von Kevelaer sieht Camillus dann die Marienstatue. Sie erinnert ihn sofort an die Statue in Madhu, das wichtigste Marienheiligtum in Sri Lanka. Sie wird für den Geflüchteten ein Fixpunkt in der neuen Heimat.
Erste Tamilen-Wallfahrt 1988
„Anfangs habe ich nur daran gedacht, in der Kerzenkapelle vielleicht mal einen Gottesdienst mit anderen Tamilen zu feiern“, sagt Camillus. Doch dann reift die Idee, erst in ihm – und dann gemeinsam mit einem jungen Priester aus Sri Lanka, der die Tamilen-Seelsorge in Deutschland mit entwickeln soll.
So wird aus dem einfachen Gottesdienst gleich eine kleine Wallfahrt: „1988 sind wir am 15. August – Mariä Himmelfahrt – mit 40 Tamilen nach Kevelaer gefahren.“ Dank der Hilfe aus dem Katholischen Stadthaus: Geschäftsführer Wagner hat abermals Genehmigungen besorgt – und den nötigen Bus.
Auch tamilische Hindus nehmen an der Wallfahrt teil
Diese Wallfahrt ist der Beginn einer in Deutschland fast einzigartigen Erfolgsgeschichte, denn ab da ging es mit der Tamilen-Wallfahrt stetig bergauf: 100 Teilnehmende im zweiten Jahr, 200 im dritten, 300 im vierten. Seit dem Jahr 2000 pilgern jeweils am zweiten Samstag im August rund 10.000 tamilische Gläubige aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland nach Kevelaer. Eine mehr als stattliche Zahl, gerade angesichts von bundesweit rund 60.000 tamilisch-stämmigen Menschen.
Dass die mitnichten alle katholisch sind, ist für die Kevelaerer Wallfahrt kein Problem. Längst ist das überdimensionale Glaubens- auch ein Kulturfest geworden, das zum Beispiel auch tamilische Hindus besuchen. „Die ehren auch Mutter Maria“, betont Camillus den verbindenden Charakter der Wallfahrt.
Die Tamilen-Wallfahrt als Lebensthema
Beim großen Markt, der zur Wallfahrtszeit hinter der Basilika aufgebaut wird, um fernöstliche Stoffe oder kulinarische Köstlichkeiten aus der tamilischen Kultur anzubieten, spielt die Religionszugehörigkeit ohnehin kaum eine Rolle. Und mit den finanziellen Erlösen der Wallfahrt unterstützen sie soziale Projekte, zum Beispiel den Bau eines Altenheims in Sri Lanka, wo der Bürgerkrieg erst 2009, nach über 25 Jahren, zu Ende gegangen ist.
Für Camillus wird die Tamilen-Wallfahrt ein Lebensthema. Anfangs unterstützt er den Aufbau der deutschen Tamilen-Seelsorge als deren hauptamtlicher Sekretär. Dann macht er eine Ausbildung zum Krankenpflegehelfer und ist mit einer halben Stelle in der tamilischen Gemeinde Oberhausen tätig.
Die Tamilen-Wallfahrt strukturiert den Jahresablauf
Ab 2006/2007 wechselt er in die Essener Bistumsverwaltung, bleibt dort Ansprechpartner für die Tamilen-Seelsorge und startet eine neue berufliche Herausforderung: Als Abend-Pförtner wird er für Mitarbeitende und Veranstaltungsgäste eines der bekanntesten Gesichter im Essener Generalvikariat – während seine Frau Justina als Erzieherin in der katholischen Kita Christus König in Oberhausen arbeitet.
Doch egal ob hauptberuflich oder im Ehrenamt: Immer taktet die Wallfahrt das Jahr von Thuraisingham Camillus. „Im Februar/März beginnt die Organisation mit ersten Absprachen mit der Stadt und der Wallfahrtsleitung.“
Keine Nachwuchssorgen bei Tamilen-Wallfahrt
Vieles ist heute Routine. Und doch gibt es Jahr für Jahr genug Arbeit, damit diese Massenveranstaltung möglichst reibungslos ablaufen kann.
Nachwuchssorgen kennt der langjährige Wallfahrtsleiter übrigens keine. Vor der 38. Auflage im Sommer 2025 spricht er von den vielen jungen Leuten, die nun die Hauptarbeit der Organisation übernehmen. Von mehreren Chören, die den Termin fest im Kalender haben. Von ärztlichen und pflegerischen Kräften aus der tamilischen Community, die sich eigens Urlaub nehmen, um den Sanitätsdienst zu übernehmen.
Der Wallfahrts-Organisator tritt in den Ruhestand
„Deshalb kann ich jetzt in die zweite Reihe treten“, sagt Camillus. Das passt gut, denn auch in seinem bezahlten Job geht er in diesen Tagen in den Ruhestand.
Die Füße legen Justina und er aber nicht hoch – nicht nur wegen der zwei Enkel, mit denen ihre drei Kinder mittlerweile das Familienleben bereichern. Erst einmal geht’s für das Ehepaar auf eine mehrmonatige Reise durch Südostasien: Malaysia, Singapur, Thailand, Sri Lanka und Indien stehen auf dem Plan. „Ein Rückflugticket haben wir noch nicht gebucht“, sagt der künftige Rentner. „Es reicht ja, wenn wir im August zurück sind, am Freitag vor der nächsten Wallfahrt.“