GASTBEITRAG

Was eine Kevelaer-Wallfahrt mit einem „links-versifften“ Katholiken macht

Anzeige

Wie Klaus Nelißen vom katholischen Rundfunkreferat beim WDR von Köln nach Kevelaer pilgerte – und von der eigenen Volksfrömmigkeit überrascht wurde.

Kevelaer habe ich zwar die längste Zeit meines Lebens nicht gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Aber: Eine Wallfahrt zur „Consolatrix afflictorum“, zur Trösterin der Betrübten, wäre mir dennoch nicht in den Sinn gekommen.

Zum einen bin ich Kempener. Schon in der katholischen Grundschule sagte uns die Lehrerin, dass einst das Gnadenbildchen aus Luxemburg zunächst an den damals größten Marienwallfahrtsort am Niederrhein gelangte – eben nach Kempen. Davon zeugt noch heute die stolze und reichverzierte Propsteikirche. Aber die Kempener lehnten wohl dankend ab. Kevelaer tat das nicht. Der Rest ist Pilgergeschichte.

„Links-grün-versifft-katholisch“ sozialisiert

Zum anderen stamme ich aus einer Kirchensozialisation, die ich liebevoll-selbstbewusst als „links-grün-versifft-katholisch“ betitele. Der Kirchenheld meiner Jugend war statt Johannes Paul II. eher der geschasste französische Bischof Jacques Gaillot. Er predigte einst in meiner Heimatgemeinde St. Josef. Ein allzu volkstümelnder Katholizismus war mir also nicht in die Wiege gelegt und hat bei mir auch eher einen sauertöpfischen Beigeschmack. Wobei: Ein deftiger Eintopf hat auch was –dazu später mehr.

Das Pilgern an sich hat mich jedoch spätestens seit meinem Zivildienst begleitet. Den machte ich in Tabgha, am See Genezareth. Im damaligen Heiligen Jahr 2000 pilgerten Gott und die Welt dorthin. Als Papst Johannes Paul II. die Brotvermehrungskirche als Heilig-Land-Pilger aufsuchte, spielte ich gar Klavier: „This is Holy Ground“.

Nicht ganz freiwillig auf dem Weg

Später, in meiner Pastoralassistenz in Münster-Wolbeck, organisierte ich eine Messdienerreise nach Rom samt Sieben-Kirchen-Wallfahrt – zu Fuß natürlich. Auch begleitete ich immer wieder Pilgergruppen ins Heilige Land. Einmal nahm ich auch teil bei „Bibel und Rucksack“, was mein Mentor entlang der Mosel bis nach Trier organisierte – Richard Schu-Schätter, heute Wallfahrtsreferent in Telgte.

Pilgern war mir also nicht fremd. Aber ganz freiwillig wäre ich wohl vor drei Jahren nicht mitgegangen bei der Fußwallfahrt der „Kölner Kevelaer-Bruderschaft von 1672“. Hätte nicht unser Pfarrbriefteam an St. Agnes das damalige 350. Jubiläum als Anlass gesehen, über diese Gruppierung zu berichten.

Als Journalist dabei

Sie erschien uns „Agnesianern“ – ebenfalls eher „links-versifft“ – immer etwas zu sauertöpfisch-fromm. Wir spöttelten in den Jahren zuvor meist über diese alt-ehrwürdige Bruderschaft, nach dem Motto: „Die gibt’s eben auch noch.“ Jedoch dachten drei von uns im Pfarrbriefteam: „Bevor wir einfach nur darüber etwas schreiben, gehen wir doch einfach mit. Als ‚embedded journalists‘.“

So brach ich an einem heißen Julimorgen von St. Kunibert in Köln mit rund 50 anderen Fußpilgerinnen und Pilgern auf. Mit einem viel zu schweren Tagesrucksack, mit den völlig falschen Schuhen und mit ordentlich ironischer Distanz.

Kein Platz für ironische Distanz

Den Rucksack entleerte ich schnell in den Begleitbus dieser logistisch hervorragend organisierten Tour des damaligen Präfekten der Bruderschaft, Michael Rind. Mit Blasen an den wunden Pilgerfüßen musste ich schon ab Tag 1 leben beziehungsweise gehen.

Die teils über 35 Kilometer langen Etappen, zum Beispiel stramm von Köln bis Neuss-Kaarst, ließen schnell wenig Spielraum für ironische Distanz. Der Weg über den Niederrhein, auch durch meine Heimat Kempen, war in der prallen Juli-Sonne eine Grenzerfahrung. Das hatte ich dem platten Niederrhein gar nicht so zugetraut, Mir auch nicht – und auch nicht der Gruppe.

Intensive Gespräche

Tatsächlich entdeckte ich in den Mitpilgernden eine Gemeinschaft von Menschen, die faszinierend war. Vertreten war praktisch jedes Alter, ab der Jugend bis 82.

Selten habe ich mit so unterschiedlichen Charakteren in so kurzer Zeit so intensive Gespräche geführt: über das queere Küster-Sein in der katholischen Kirche, über die Seelsorgequalitäten einer Familienrichterin bis zu den Implikationen des verfrühten Braunkohleausstiegs für die rheinische Wasserversorgung. Denn eine Planerin aus dem NRW-Umweltministerium pilgerte ebenso mit.

Der Rosenkranz gibt Tritt

Aber nicht immer war Zeit zum Plaudern. Denn die Kölner Kevelaer-Bruderschaft unterwirft sich einer strengen Disziplin, was das Beten anbelangt. Im Pilgerbuch standen exakt geplant alle Gebete und Gesänge, die wir zwischen den Feldern und beim Einzug in die jeweiligen Städtchen und Kirchen sangen. Nichts war dem Zufall überlassen, streng zeigte der geneigte Pilgerstab an, welche Seite der Pilgergruppe dran war beim Beten der Litanei oder des Rosenkranzes.

Das ist eigentlich nicht meine Spiritualität. Aber: Bei sengender Sonne zwischen den Maisfeldern gab mir der Rosenkranz Tritt. Er war Richtschnur, wenn die blasengeplagten Füße strauchelten.

Tränen im Heimatort

Jede Rast in einer kühlen Kapelle war eine Wohltat, ein Gebet. Und ein Segen war jeder Eintopf und jedes Brötchen, das Bauersleute teilweise schon seit Jahrzehnten für die Pilger aus Köln bereithielten und halten. Eintopf kann so himmlisch sein – wenn die Füße einen bereits 25 Kilometer getragen haben!

Dann näherten wir uns Kempen. Meiner Heimat. Ich sah zunächst den rosa Kirchturm der Propsteikirche zwischen den Apfelbaumplantagen, dann den bleistiftartigen Kirchturm „meiner“ Kirche St. Josef, gebaut in den 1990er Jahren. Und mir kullerten zum ersten Mal die Tränen. So sehr hatte es mich bewegt, mir einmal die Distanz Köln-Kempen zu ergehen – und nicht wie sonst mit Bahn oder Pkw zu erfahren.

Der Einzug in Kevelaer

Eine besonders tränenreiche Erfahrung war tags drauf der Einzug in die Marienbasilika in Kevelaer. Da heulte ich tatsächlich Rotz und Wasser. Warum?

Die letzte Etappe nach Kevelaer war ich nicht zu Fuß gepilgert. Für mich war schon in Kempen Schluss. Da ich dienstlich am Tag der Ankunft noch nach Paderborn musste, verzichtete ich auf die entscheidende Etappe, fuhr aber mit dem Auto nach.

Unruhige Nacht zuvor

Mit meinem Pfarrbrief-Kollegen Georg übernachtete ich bei meiner Mutter. Sie war sehr erfreut über unseren Besuch, denn es war gerade erst ein halbes Jahr her, dass sie allein lebte in dem Haus, das mein Vater gebaut hatte.

Die Nacht im Haus meines Vaters war unruhig. Ich dachte mir immer wieder: „Bei einer Wallfahrt kann sich ja auch etwas wandeln.“

Was die Wallfahrt gelöst und ausgelöst hat

Am nächsten Morgen fuhr ich zum Friedhof. Ich stand am Grab meines Vaters und sagte ihm Dinge, die ich ihm schon zu Lebzeiten hätte sagen sollen.

Dann nahm ich allen Mut zusammen und fuhr zu meiner Mutter. Ich sagte ihr zum Beispiel, dass ich einen Antrag stellen werde für eine längere Reha in einer psychosomatischen Klinik.

Der Fußweg ließ Dinge reifen

Davor hatte ich mich lange Zeit geziert. Das kratzte an meinem Stolz, ich hatte Scham, meiner Mutter davon zu erzählen. Aber der Fußweg über den Niederrhein, die Gespräche und die Gebete, die hatten die Zeit reifen lassen, das alles in Worte zu bringen.

„Maria, zu dir kommen wir“ ist das Motto der Kölner Kevelaer-Bruderschaft. Und als ich dann am Mittag die Fußpilger abfing und nach den letzten paar hundert Metern zu Fuß in die Basilika einzog, da war es, als hätte ich ein schweres Paket von meinen Schultern auf dem Kapellenplatz abladen können. Als hätte sich etwas gelöst.

Maria als Knotenlöserin

Auch aus meiner Therapie weiß ich: Manche Verknotungen im Leben brauchen eine Lösung, keine Schere oder sonstiges „Hau-Ruck“. Daher bin ich ein großer Freund von Maria, der Knotenlöserin.

Die findet sich zwar in Augsburg, nicht in Kevelaer. Aber dennoch: Vor drei Jahren habe ich Maria als die Knotenlöserin erfahren.

In diesem Jahr wieder dabei

Und weil ich damals nicht die ganze Strecke gepilgert bin, und weil in diesem Jahr der Kalender es hergibt, und einfach, weil es mich in den Füßen juckt, werde ich mich in diesem Jahr wieder mit der Kölner Kevelaer-Bruderschaft auf den Weg machen. Diesmal mit dem richtigen Schuhwerk. „Pilger der Hoffnung“ ist das Motto des Heiligen Jahres 2025. Das möchte ich sein: pilgernd-hoffend, auf dem Weg zur Trösterin der Betrübten.

Anzeige