Sommerserie "Geheimnisvolle Orte im Bistum" - Teil 4

Klanggebirge in Kevelaer

"Ich habe den schönsten Arbeitsplatz in Kevelaer", sagt Basilika-Organist Elmar Lehnen im Brustton der Überzeugung.

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"Ich habe den schönsten Arbeitsplatz in Kevelaer", sagt Basilika-Organist Elmar Lehnen im Brustton der Überzeugung. Wissend, dass sein Chef, Wallfahrtsrektor Rolf Lohmann, Ähnliches behaupten könnte. Doch ob nun vom Altar aus in die Marienbasilika oder vom Orgelspieltisch aus luftiger Höhe in die Kirche herab – da sind sich beide einig: Weder der eine noch der andere Blick ist zu toppen.

Wenn der 51-jährige Kirchenmusiker Lehnen seinen Arbeitsplatz, den Orgelspieltisch, aufsucht, muss er vorher 43 Stufen zur Orgelbühne emporsteigen. Dann habe er den Frühsport bereits hinter sich, sagt Lehnen schmunzelnd. Seit 2000 ist er Organist in der Wallfahrtsstadt.

Dieser Orgelspieltisch gleicht mit seinen Schaltern, Tasten und Druckknöpfen eher der Kommandobrücke eines Raumschiffs als einem Instrument. Und das ist auch kein Wunder. Denn von hier aus steuert Lehnen 10 000 Pfeifen, verteilt auf mehr als 140 Register. "Noch fehlen drei Register zum Originalzustand. Mit dem wiederhergestellten Fernwerk haben wir dann zusammen 149 Register", sagt Lehnen stolz.

Der Organist steht vom Spieltisch auf und deutet auf einen Eingang im Orgelprospekt. Hier geht es auf schmalen Stiegen drei Etagen in die Höhe. "Die Orgel besteht aus vier Werken", erläutert er: "dem Hauptwerk, dem Oberwerk, dem Pedalwerk und dem Schwellwerk. Das Fernwerk steht auf einer eigenen Empore. Jedes Werk ist auf einer eigenen Etage untergebracht", erklärt er.

Man muss schon schwindelfrei sein, will man die Leitern erklimmen. Auf dem Weg in die Höhe stoppt Lehnen immer wieder und zeigt auf besondere Gruppierungen. "Diese klingen wie Flöten oder Geigen", erklärt er. Dann zeigt er auf Pfeifen, die wie Fanfaren in den Raum ragen. "Sie klingen auch so", meint er. "Diese Trompeten-Batterie ist 1987 zum Besuch von Papst Johannes-Paul II. eingebaut worden. Damit stieg die Zahl der Register insgesamt auf 128", sagt Lehnen.

 

Fanfaren für den Papst

 

Dieses so genannte Chamade-Werk, erläutert er, sei nach dem Vorbild der Cavaillé-Coll-Orgel von Sacre-Cœur in Paris gebaut worden und entfalte einen gewaltigen Klang, der durch eine eigene, erhöhte Windversorgung entstehe.

Unter den Fanfaren legt Lehnen eine kurze Rast ein, um die beiden Orgeltypen zu beschreiben. "Die Orgel in Kevelaer ist als romantische oder symphonische Orgel gebaut worden. Um dieses Klangideal erfüllen zu können, benötigt sie eine Vielzahl von Registern oder Klangfarben. Im Unterschied zum barocken Ideal, wo viele Tonlinien in schlanker Form ein Tongebilde ergeben, haben wir es bei dem romantischen Typ mit stufenlosen Farbschattierungen zu tun."

Elmar Lehnen
Von seinem Spieltisch aus, hoch oben auf der Orgelbühne, begleitet der Kevelaerer Basilika-Organist Elmar Lehnen die Liturgie.

Er vergleicht es mit der Malerei: Musikalisch ergeben im Barock Gelb und Blau die Farbe Grün. So sei es auch mit den Klangfarben, die der Organist wie ein Maler mische. In der Romantik gibt es viele Register ähnlicher Farben, die den Orgelklang voluminöser machen, anstatt ihn wie in der Barockzeit komplett zu verändern. Er vergleicht die barocke und romantische Orgel mit unterschiedlichen Orchestern. Ein Werk von Bach könne man mit relativ kleinem Orchester aufführen. Ein Werk von Brahms benötige eine viel aufwändigere Besetzung.

Die Stufen werden steiler und schmaler. Immer wieder zeigt Lehnen auf Pfeifengruppen, die gerade erst restauriert wurden. An der einen oder anderen Stelle fehlen noch Orgelpfeifen. Auf die Frage, ob man das beim Orgelspiel in der Liturgie nicht merke, antwortet er: "Um diese Töne spiele ich dann herum."

Lehnen verweist auf die vielen Leitungen. "Jede einzelne Orgelpfeife ist mit einer solchen Leitung verbunden", sagt er. "Um dieses Instrument zum Klingen zu bringen, ist ein kaum vorstellbares Maß an Technik notwendig."

Plötzlich hält er an. "Jetzt stehen wir direkt hinter der Marienfigur", sagt er. Von diesem Platz aus blickt man aus luftiger Höhe in die Basilika. Sieht man den tiefblauen Sternenhimmel vor sich, erahnt man, was sich die gotischen Baumeister gedacht haben, wenn sie sagten: "Wir bauen ein Abbild des Himmels."

Die Ausmalung der Kirche durch Friedrich Stummel erhält von der Empore aus einen geradezu mystischen Charakter. Ist es doch dieser warme Ton, unterstützt durch die Beleuchtung in der Kirche, die einen von den Sorgen des Alltags zumindest vorübergehend befreit und sich den biblischen Darstellungen zuwenden lässt. Blickt man in den weiten Raum der Kirche, bekommt man eine Ahnung davon, warum gerade hier die Menschen Trost bei der Gottesmutter suchen.

 

Keine Kompromisse

 

Vorsichtig klettert Lehnen die Leitern wieder hinunter, bis er auf der Orgelbühne angekommen ist. Mit Blick auf den Prospekt greift er das Thema Technik noch einmal auf. "Kevelaer ist früh elektrifiziert worden. Das war ein unglaublicher Vorteil." Denn die Entwicklung der romantischen Orgel sei Ende des 19. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen. Weil mechanisch unterstützt, hätten die Organisten die Tasten nicht mehr spielen können.

Gerhard Korthaus, Basilika-Organist von 1890 bis 1926, hat den Ausbau der Seifert-Orgel intensiv gefördert. Der Kölner Orgelbauer Ernst Seifert bekam 1905 den Zuschlag für den Bau der Orgel mit der Maßgabe, in Kevelaer eine Firmendependance bauen zu müssen. Zwei Jahre später wurde der Orgelriese mit 122 Registern geweiht. 1926 wurde die Basilika-Orgel auf 131 Register erweitert und war damit die größte Orgel im deutschen Reich. Die zweitgrößte Orgel war damals die im Berliner Dom mit 113 Registern.

"In Kevelaer kamen viele Aspekte zusammen", sagt Lehnen. "Die Akustik war gut, der optimale Platz in der Kirche war frei, und es gab früh elektrischen Strom. Man musste keine Kompromisse machen. Und Maria hat natürlich geholfen", ist er überzeugt. Durch den Krieg war die Orgel stark beschädigt worden. Die in den Vierzigerjahren erfolgte Restaurierung war lediglich Flickwerk. 1976 sollte die Orgel neu gebaut werden. Dem damaligen Wallfahrtsrektor Richard Schulte Staade ist es zu verdanken, dass die Seifert-Orgel umfassend restauriert wurde. Er wollte die Kirche – Bau, Ausmalung und Orgel – aus einem Guss erhalten.

Seitdem wird an der Wiederherstellung der romantischen Orgel gearbeitet. Spenden, Erbschaften und Aktionen helfen Lehnen, sein Ziel zu erreichen. "Noch fehlen drei Register. Doch ich sehe Licht am Ende des Tunnels."

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