KIRCHE+LEBEN-INTERVIEW

Klinikpfarrer Ulrich Lüke: Jeder Patient hat einen religiösen Bezug

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Lehrt Not beten? Was heißt das für die Krankenhausseelsorge? Pfarrer Ulrich Lüke über „Denkzettel“, Ehrenamtliche und Lehren aus Corona.

Herr Lüke, wie gefragt ist Seelsorge im Krankenhaus? Lehrt Not noch beten?

Auf der Liste derer, die ein Gespräch mit einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin wünschen und dies bei der Aufnahme angeben, stehen täglich 20 und mehr Personen. Seelsorge ist sehr gefragt. Dazu kommen Anfragen vom Stationsstützpunkt, wenn Patienten krisenhafte Situationen durchleben und ein besonderer Gesprächsbedarf entsteht. Ja, Not lehrt beten. Zwar nicht immer und überall, aber doch häufig und für meinen Wahrnehmungsbereich signifikant – das erfahre ich oft. Aber manchmal braucht es nach jahrelangem Ungeübtsein Hilfestellungen, wieder zum Gebet zu finden. Ich hinterlasse häufig nach einem Gespräch augenzwinkernd einen „Denkzettel“ mit Gebeten nicht nur für Tage der Krankheit und sage den Patienten: „Wenn Sie nichts damit anfangen können, machen Sie eine Schwalbe daraus, dann fliegt sie schon dem Richtigen zu.“ Stattdessen erlebe ich, dass Menschen, die länger oder wiederholt im Hospital sind, nach weiteren „Denkzetteln“ fragen und als Genesene zur sonntäglichen Gottesdienstgemeinde in der Hospitalkapelle dazustoßen.

Gilt das auch für Menschen ohne religiösen Hintergrund?

Ich bezweifle gegen den derzeitigen Mainstream, dass es Menschen gibt, die gänzlich und rückstandsfrei ohne Transzendenzbezug sind. Wo ein Sinnhorizont gesucht wird, der sich nicht in biologischer, sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisbefriedigung erschöpft, wo die eigene Deutungskompetenz in Bezug auf das eigene Lebensganze gefragt ist, überall da tut sich für mich unübersehbar ein auch religiös zu nennender Hintergrund auf. Überall da, wo der Mensch nach dem Sinn seiner selbst und des Welttheaters im Ganzen fragt, überall da erreicht er die Dimension des Religiösen. Als einem Biologen und Theologen ist mir der Hinweis aus der Paläoanthropologie und der Transzendentaltheologie Karl Rahners nicht entgangen, dass der Primate dort zum Menschen wird, wo er nach einem umfassenden Deutungshorizont fragt und sich in ihn einordnet. Der Theist, der Atheist und der Nihilist haben einen religiösen Hintergrund, wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen.

Vermehrt ist statt von Seelsorge von „Spiritual Care“ die Rede. Welchen Mehrwert sehen Sie?

Kein Krankenhaus kann es sich angesichts der Konkurrenzsituation heute noch leisten, auf professionelle Seelsorge zu verzichten. Und wenn man das heute mit dem weiteren Begriff „Spiritual Care“ benennt, sehe ich darin die Anerkenntnis, dass der kranke Mensch mehr ist als ein physiologischer Funktionskontext. Dass er einen Deutungshorizont für sein Leben, dass er einen zur Heilung beitragenden, Sinn stiftenden Kontext sucht. Seelsorge ist auch in katholischen Krankenhäusern nicht kleinkariert konfessionalistisch. Wir respektieren jede Spiritualität, die auf den unser Denken weit übersteigenden Gott verweist.

Wie sollte die Krankenhausseelsorge auf sinkende Zahlen bei hauptamtlichen Seelsorgenden reagieren?

Die Zahl der hauptamtlich Seelsorgenden ist bedrohlich geschrumpft. Es muss sicher die kirchliche Einstellungspraxis flexibilisiert werden. Das geschieht auch schon hier und da durch zusätzlich geschulte Quereinsteiger. Ich selber bin von der Uni seit acht Jahren emeritiert. Vielleicht fänden sich auch erfahrene Pastoralreferentinnen und -referenten aus dem Gemeindedienst bereit, über die Pensionierung hinaus in der Krankenhausseelsorge mitzuwirken. Lebenserfahrung ist in diesem Feld sehr hilfreich.

Könnten mehr Ehrenamtliche helfen?

Das Bistum bildet dankenswerterweise seit etlichen Jahren ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger aus, bietet ihnen Reflexionswochenenden, Gruppen-Supervisionen sowie Praxisfelder in den Krankenhäusern an und stellt ihnen vor Ort hauptamtliche Seelsorger als Mentoren zur Seite. Ich habe im Bereich der ehrenamtlichen Seelsorge beeindruckende Personen erleben können. Ohne sie würde vieles nicht so laufen, wie es wünschenswert ist.

Auch für Mediziner und Pflegekräfte ist die Krankenhausseelsorge zuständig. Wie hat sich dieser Teil Ihrer Arbeit verändert angesichts des Fachkräftemangels und anhaltender Debatten um Klinik-Strukturreformen?

Das St.-Franziskus-Hospital in Münster ist mit den Strukturreformen bisher gut klargekommen: Es bietet zum Beispiel seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – Fachkräftemangel und Strukturreform hin oder her – über die Urlaubstage hinaus drei bezahlte Exerzitientage an. Beim Klinischen Ethik-Komitee, beim Arbeitskreis „Christlich-Franziskanische Werte“, bei Gesprächen mit Ärzten und Pflegekräften, die an ihre Belastungsgrenzen gekommen sind, bei Gottesdiensten zu Festtagen, zu Jubiläen, zur Verabschiedung und zum Dienstbeginn – überall da sind wir als Seelsorger mit unseren erfreulich unterschiedlichen Fähigkeiten gefragt.

Eine Stress-Zeit für Kliniken war die Covid-Pandemie, die vor fünf Jahren begann. Ist diese Zeit ausreichend aufgearbeitet?

Leider hat es auch unter Seelsorgerinnen und Seelsorgern solche gegeben, die sich angesichts der Covid-Pandemie in die „sichere Ecke verdrückt“ haben, anstatt – selbstredend mit angemessener hygienischer Kenntnis und Ausstattung – ihren noch dringender notwendig gewordenen Dienst bei den Kranken weiter zu tun. Die Heilige Schrift findet hier deutliche Worte (Joh 10, 11-21) im Bild vom „guten Hirten“ und vom „bezahlten Knecht“ angesichts der Wölfe, die die Herde bedrohen. Ich bin durch das Hospital trotz allem, was in Sachen Hygiene dazuzulernen war, nicht daran gehindert worden, meinen seelsorglichen Dienst zu tun. Es wäre fatal, wenn wir Seelsorger nur noch als Gruß-August bei Jubiläen oder als Schönwetter-Propheten in Erscheinung träten und nicht mehr als Stütze in Stress-Zeiten. Allerdings: Für auch seelsorglich aufgearbeitet halte ich diese Stress-Zeit bis heute nicht.

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