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Benedikt XVI. hat mit seinem Artikel über die Gründe für die Missbrauchs- und Kirchenkrise niemandem einen Dienst erwiesen. Und doch gibt es eine wichtige Lehre daraus, meint Markus Nolte in seinem Kommentar.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat mit seinem Artikel über die Gründe für die Missbrauchs- und Kirchenkrise niemandem einen Dienst erwiesen. Und doch gibt es eine wichtige Lehre daraus, meint Markus Nolte in seinem Kommentar.
Ja, es sind erst sechs Jahre her, seit in der katholischen Kirche so frei gedacht und gesprochen werden kann – auch über Sexualität, Missbrauch und Kirchenfehler. Gott sei Dank. Jetzt taucht das Denken von damals wie ein Gespenst aus einer fernen Welt wieder auf. Der Artikel von Papst emeritus Benedikt XVI. im bayerischen „Klerusblatt“ weckt Erinnerungen an unfassbare Selbstherrlichkeit und Realitätsfremdheit: Schuld am Missbrauch und am Missbrauchsskandal seien die anderen, die Welt sei schlecht und böse, und beides vergifte die Kirche.
Was und wen der emeritierte Papst Benedikt XVI. da als Gründe für die massive Krise aufführt – man kann nur mit dem Kopf schütteln: Sexkoffer in Österreich, Pornos im Passagierflugzeug, verheiratete Pastoralreferenten samt Frau und Kind im Speisesaal der Priesterseminare, zu deren Einrichtung überdies Schwulenclubs gehörten, nebulöse Kirchenzerstörer und der Teufel – schließlich eine fehlgeleitete Moraltheologie. Und dann die rettende Instanz: die Glaubenskongregation in Rom, die sich endlich „der Sache“ annahm. Deren damaliger Leiter ist bekannt: Joseph Ratzinger.
Woran sich Benedikt XVI. nicht erinnert
Kein Wort darüber, dass die verquaste Sexualmoral der Kirche Sexualität ungeachtet sämtlicher humanwissenschaftlicher und moraltheologischer Erkenntnisse in der Schmuddelecke einschloss. Kein Wort darüber, wie diese Sexualmoral den Menschen das Leben schwer machte, statt sie so etwas wie die „Fülle des Lebens“ genießen zu lassen, um es mal vornehm auf „Kirchisch“ auszudrücken.
Benedikt XVI. erinnert sich erstaunlich gut an die Details der sexuellen Revolution, ein bisschen weniger gut an den Ausbruch der Missbrauchskrise Ende der Achtzigerjahre – und offenbar so gar nicht daran, wie er womöglich selber als Erzbischof von München-Freising und auch später mit Priestern und Bischöfen umging, die als Täter oder Vertuscher mit Missbrauch zu tun hatten. Doch der von ihm gewünschte „neue Aufbruch“ ist nur um den Preis selbstkritischer, auch schmerzlicher und vor allem transparenter Aufarbeitung zu haben. Davon ist im Artikel des Papa emeritus nichts zu lesen.
Was sich verändert hat – und was nicht
An einer Stelle spricht er dann doch von Vergebung – nämlich in jener Passage, in der er dem Leid eines Opfers Raum gibt. Die Frau war als Ministrantin von einem Priester missbraucht worden, der dazu perverserweise die Wandlungsworte der Messe nutzte. Doch die Bitte um Vergebung, von der Benedikt spricht, richtet er mitnichten an die Frau, sondern an Gott – und warnt zugleich vor weiterem Missbrauch, nämlich der Eucharistie. Um dann umgehend zum wohl eigentlich Wichtigen zu mahnen: Dem Sakrament werde ohnehin viel zu wenig Ehrfurcht entgegen gebracht. Kein Wort über jene Ehrfurcht, die ein Priester vor jedem Menschen zu haben hat, sogar vor Frauen.
Mit diesem Artikel hat Benedikt XVI. niemandem einen Dienst erwiesen. Weder den Opfern noch der Kirche noch sich selbst. So gesehen zeugt sein selbst gewähltes Schweige-Gelübde einmal mehr von Weisheit. Dennoch: Sein Beitrag zeigt, was sich in den letzten Jahren in der Kirche verändert hat. Gott sei Dank. Und wie groß und verbreitet offensichtlich weiterhin die Gefahr ist, in überkommenes Denken zurückzufallen. In ein Denken, dem es zu allererst um die Kirche, ihr Ansehen, ihre Lehre und ihre Macht geht. Dann kommt irgendwann, vielleicht, der einzelne Mensch. Wenn der emeritierte Papst mit seinem Artikel eines gelehrt hat, dann dies: Es gibt noch viel zu tun.