Themenwoche „Inflationskrise – wie Gemeinden helfen“ (5) - Sedelsberg

Krise in der Kleiderkammer: „Jetzt kommt auch die Mittelschicht“

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Die Inflation hat ein Rekordniveau erreicht, Energie- und Lebensmittelpreise sind explodiert. An wen können sich Hilfesuchende wenden? In unserer Themenwoche „Inflationskrise – wie Gemeinden helfen“ stellen wir verschiedene kirchliche Angebote vor. Im fünften Teil berichten wir aus der Kleiderkammer in Sedelsberg (Landkreis Cloppenburg).

„In der Kleiderkammer sehen wir die Not. Und wenn wir schließen würden, dann würde etwas fehlen in Sedelsberg.“ Marina Meyer denkt an drei Kunden, die sie neulich erst bedient hat, Mindestlohn-Empfänger. „Sie sagten, sie würden die Heizung nicht mehr anstellen. Weil sie es sich nicht leisten können.“ Die 66-Jährige zuckt mit den Schultern. „Die Not ist bei manchen groß. Gerade deshalb ist unsere Arbeit so wichtig.“

Auch für Kinder. Gut erinnert sich die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Kleiderkammer „Klamotte“ im Ortsteil Sedelsberg der Gemeinde Saterland (Kreis Cloppenburg) an die leuchtenden Augen eines Mädchens, das sich eine Jacke aussuchen konnte. Oder sie denkt an die Mutter, die nach Fußballschuhen für die Tochter fragte. „Ihre Kinder wollten die 50 Cent dafür in Cent-Stücken bezahlen. Sie glauben doch nicht, dass wir das genommen haben? Wir haben ihnen die Schuhe umsonst gegeben.“

Kleiderkammer vor 15 Jahren gegründet

Marina Meyer war von Anfang an dabei, als die Kleiderkammer der St.-Jakobus-Pfarrei vor rund 15 Jahren gegründet wurde, zunächst mit Schwerpunkt auf Kindern und Familien. Weil sie damals, in den 1990er Jahren, den Sedelsberger Marienkindergarten leitete und zum Beispiel mitbekommen hatte, wie manche der Kleinen im Winter morgens in Sandalen oder dünnen Sommerjacken kamen. „Das war hier ein sozialer Brennpunkt“, sagt sie.

Mit den Jahren etablierte sich die Einrichtung zu einem Angebot auch für Erwachsene. Gebrauchte Kinderkleidung kostet dort 50 Cent das Stück, Jacken 1 Euro, Unterwäsche 10 Cent. Kleidungsstücke für Erwachsene 1 Euro und Jacken 1,50 Euro.

Menschen kommen gezielt zur Kleiderkammer

Die Kleiderkammer Sedelsberg befindet sich im Dachgeschoss des ehemaligen Schwesternhauses direkt neben dem St.-Marien-Kindergarten. | Foto: privat
Die Kleiderkammer Sedelsberg befindet sich im Dachgeschoss des ehemaligen Schwesternhauses direkt neben dem St.-Marien-Kindergarten. | Foto: privat

Was Marina Meyer in den letzten Monaten gesehen hat: Es stehen nicht mehr nur die ganz armen Menschen in der Kleiderkammer. „Jetzt kommt auch die Mittelschicht“, sagt sie. „Die, die sonst Sachen abgegeben haben, kommen jetzt gezielt und kaufen. Sie sagen: Es lohnt sich. Gerade dann, wenn man Kinder hat.“

So wie die Frau, deren Mann in der Corona-Krise auf Kurzarbeit gesetzt worden war. „Eine Mutter von fünf Kindern. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie sagte: ,Jetzt haben sie endlich wieder warmes Zeug. Man weiß ja nicht, wie lange das noch anhält.‘“

Auch die Pandemie kam in der Kleiderkammer an

Deshalb sind auch Spender so wichtig für das Angebot. Am liebsten möchte das Ehrenamtlichen-Team nur gewaschene Kleiderspenden annehmen. „Es gibt aber auch welche, die gleich sagen, dass die Sachen noch schmutzig sind.“ Verstehen kann Marina Meyer so eine Haltung zwar nicht. Aber was soll sie machen? Manchmal waschen die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer die Sachen dann noch selbst bei sich zu Hause.

Geöffnet ist die Kleiderkammer immer mittwochs von 9 bis 11.30 und von 14 bis 17 Uhr. Dazu immer am ersten Samstag im Monat von 9 bis 12 Uhr. „Zum Monatsende kommen weniger“, sagt Marina Meyer. Eine Entwicklung, die sie noch aus ihrer Zeit als Kindergartenleiterin von manchen Familien kennt. „Am Anfang des Monats gab es belegte Brötchen vom Bäcker und zum Ende nur noch Zwieback.“

Marina Meyer hilft Familien in Not

Marina Meyer, Marlies Dierkes und Hildegard Gebhard (von links) übergeben eine Spende aus dem Erlös der Kleiderkammer an Georg Pugge, den Pfarreiratsvorsitzenden der St.-Jakobus-Pfarrei. Die Kleiderkammer spendet ihre Einnahmen regelmäßig für soziale oder kirchliche Anliegen.  Zehn Jahre lang wurden daraus die Kosten für den Mittagstisch im Kindergarten bestritten. | Foto: Aloys Budde
Marina Meyer, Marlies Dierkes und Hildegard Gebhard (von links) übergeben eine Spende aus dem Erlös der Kleiderkammer an Georg Pugge, den Pfarreiratsvorsitzenden der St.-Jakobus-Pfarrei. Die Kleiderkammer spendet ihre Einnahmen regelmäßig für soziale oder kirchliche Anliegen.  Zehn Jahre lang wurden daraus die Kosten für den Mittagstisch im Kindergarten bestritten. | Foto: Aloys Budde

Seit 2020 ist Marina Meyer im Ruhestand – aber solche Erfahrungen bewegen sie aber immer noch. Auch deshalb hat sie sich vor Jahren zur ehrenamtlichen „Familienpatin“ ausbilden lassen, für Familien in Notsituationen. Gerade kommt sie von einer Alleinerziehenden mit drei kleinen Kindern. Nach einer Rücken-OP kann die Mutter nicht aufstehen. Eine Caritas-Mitarbeiterin hatte Marina Meyer deshalb gebeten, nachzusehen. Sie sah sofort: Die Situation ist schwierig. „Die anderthalbjährige Tochter lief im Zimmer hin und her. Die beiden Großen waren noch in der Schule und die Frau verzweifelt.“

„Ich werde jetzt versuchen, jemanden zu finden, der nachmittags mit den beiden älteren Kindern Hausaufgaben macht“, sagt Marina Meyer. Und einen wenigstens vorübergehenden Betreuungsplatz für das jüngste Kind. „Und egal, wo ich den finde: Wenn nötig, bringe ich das Kind morgens hin und hole es auch wieder ab.“ Ob sie dafür die Zeit hat? „Ich entscheide, was wichtiger ist. Und wenn jemand dringend Hilfe benötigt, dann sind ungeputzte Fenster auch mal nicht so wichtig.“

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