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Bund und Land NRW wollen ihre Sozialetats massiv kürzen. Was bedeutet das für Angebote der Caritas? Und woher könnte der Staat Geld nehmen, statt zu kürzen? Kirche+Leben fragt Stefanie Tegeler vom Diözesan-Caritasverband Münster.
Frau Tegeler, die Haushaltsentwürfe des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen sehen Kürzungen im Sozialbereich vor. Wie schlimm wird es?
Beim Bund kenne ich keine Gesamtzahl. Aber in NRW reden wir über die größte Sozialkürzung, die wir je hatten. Das Land will 82,9 Millionen Euro einsparen. Das ist fast ein Viertel des bisherigen Etats.
Wo wären die Einschnitte besonders tief?
Bei sozialen Unterstützungsstrukturen. Dort würden laut Vergleich der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der auch die Caritas angehört, 32,6 Millionen Euro wegfallen. Und beim Thema Migration und Integration. Da stehen 22,7 Millionen Euro auf der Streichliste.
Wo will das Land bei den Unterstützungsstrukturen streichen?
Themenwoche „Soziale Dienst am Kipppunkt?“
Fachkräftemangel in der Pflege und in den Kitas, Haushaltskürzungen unter anderem bei der Migrationsberatung – die sozialen Dienste stehen vor enormen Herausforderungen. Kirche+Leben fragt nach, wie prekär die Lage wirklich ist. Teil 1: Sozialexpertin Stefanie Tegeler vom Diözesan-Caritasverband Münster gibt einen Überblick.
Vor allem bei der Berufseinstiegsbegleitung und bei Programmen der Berufsorientierung. Da sollen allein 16 Millionen Euro wegfallen. Auswirkungen auf die Caritas haben zum Beispiel Pläne, die Landesförderung der Suchthilfe um zwei Millionen Euro zu kürzen. Das ist gut ein Drittel. Das halte ich nicht erst nach der Teil-Legalisierung des Cannabis-Konsums für das falsche Signal. Um 55 Prozent gekürzt werden sollen einige Mittel zur Armutsbekämpfung. Zum Beispiel für den Härtefall-Fonds „Alle Kinder essen mit“, der bedürftigen Kindern ein kostenloses Mittagessen in Kitas und Schulen ermöglicht.
Was plant das Land bei Migration und Integration?
Es will zum Beispiel die Förderung der allgemeinen Asylverfahrensberatung und die Verfahrensberatung für minderjährige Flüchtlinge, die ohne Begleitung nach Deutschland kommen, streichen. Dadurch sind bei allen Wohlfahrtsverbänden landesweit insgesamt 91 Vollzeitstellen bedroht. Hier wird auf eine Förderung des Bundes verwiesen, die aber längst nicht ausreicht, es bleibt ein Millionen-Minus. Komplett gestrichen werden soll die Förderung für Interkulturelle Zentren und niedrigschwellige Integrationsvorhaben. Die Auswirkungen auf die geflüchteten Menschen und ihre Integrationsmöglichkeiten sind dramatisch.
Auch wenn Sie keine Gesamtzahl kennen: Was plant der Bund?
Er will zum Beispiel die Mittel für Integrationskurse um die Hälfte kürzen, obwohl Migrantinnen und Migranten schon heute bis zu anderthalb Jahre auf einen Platz warten müssen. Und bei der Migrationsberatung ist keine Aufstockung vorgesehen. Das bedeutet angesichts von Inflation und höheren Tarifabschlüssen faktisch eine Kürzung. Oder nehmen Sie das Bürgergeld: Dafür sind statt 30,2 Milliarden Euro nur noch 25 Milliarden Euro vorgesehen. Die Politik verweist ja auf schärfere Sanktionen. Aber das ist völlig unangebracht angesichts der minimalen Anzahl der „Totalverweigerer“. Sie spielen in der politischen Diskussion eine so große Rolle, dass die Menschen denken müssen, es gäbe tatsächlich viele von ihnen.
Was bedeuten die Kürzungspläne für die Dienste der Caritas?
Zur Person
Stefanie Tegeler leitet den Bereich „Soziale Arbeit“ beim Diözesan-Caritasverband Münster und ist zugleich Flüchtlingsbeauftragte im Bistum Münster.
Die verbandliche Caritas hat in den vergangenen Jahren trotz wiederkehrender Kürzungen versucht, Beratungs- und Hilfsangebote aufrechtzuerhalten. Das wird immer schwieriger. Wir werden schauen müssen, was im Rahmen unseres Auftrags weiter möglich ist. Zum einen wirtschaftlich, zum anderen haben wir eine Fürsorgepflicht für unsere Mitarbeitenden. Wenn eine einzelne Person für eine gesamte Zentrale Unterbringungseinrichtung für Geflüchtete Beratung anbieten soll, ist das nicht zu schaffen und bringt auch den Ratsuchenden nichts. Am Ende sind es immer die hilfe- und ratsuchenden Menschen, die von wegbrechenden Strukturen am härtesten betroffen sind.
Könnten Sie nicht Arbeit zwischen Mitarbeitenden umverteilen? So, dass zum Beispiel eine Beraterin mit wenigen Stunden ihrer Zeit einer überlasteten Kollegin hilft?
Das ist kaum möglich. Wenn jemand mit sieben von 37 Stunden Arbeitszeit woanders aushilft, ist die eigentliche Aufgabe plötzlich nur noch mit 30 Stunden förderfähig. An der Stelle gehen also nötige Zuschüsse verloren. Als Caritas würden wir uns mehr „Beinfreiheit“ wünschen.
Das heißt?
Dass eine Beratungsleistung mit einem Pauschalbetrag gefördert wird und es uns überlassen bleibt, mit wie vielen Mitarbeitenden wir sie erbringen. Dann könnten wir Arbeit umverteilen.
Apropos Förderung: Gibt es eigentlich Eigenanteile der Caritas bei den Beratungsdiensten? Oder übernimmt der Staat die Kosten komplett?
Bei den allermeisten Beratungsleistungen, die Land und Bund fördern, gibt es einen Eigenanteil der Träger von mindestens zehn Prozent. Das gilt zum Beispiel auch für die Migrationsberatung. In vielen Bereichen ist der Anteil noch höher. Es gibt gerade eine neue Umfrage bei Suchtberatungsstellen. Sie geben ihren faktischen Eigenanteil mit 30 bis 50 Prozent an, vor allem wegen der Personalkosten.
Nun hat der Staat etliche Großbaustellen: Wirtschaftskrise, Bedrohung durch Russland, Klimawandel, Infrastrukturschäden. Woher soll er das Geld nehmen?
Im Grundgesetzartikel 20 ist festgelegt, dass die Bundesrepublik ein Sozialstaat ist. Es ist einer der Artikel, die nicht geändert werden dürfen. Das ist bei der „Schuldenbremse“ anders, da braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Der Staat ist verpflichtet, für das Existenzminimum und für die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen zu sorgen. Von der Kindergrundsicherung zum Beispiel ist aber praktisch keine Rede mehr. Wenn wir heute nichts gegen Kinderarmut tun, schaffen wir uns Probleme für die kommenden Jahrzehnte. Diese Folgekosten müssen dann die Kinder mittragen, gegen deren Armut die Politik heute nichts unternommen hat. Das gilt für viele Bereiche: Wer heute bei den sozialen Leistungen spart, zahlt später doppelt drauf.
Woher soll das Geld fürs Soziale kommen?
Der Staat könnte sich mal seine Einnahmenseite anschauen. Vielleicht ist ja die Steuerlast ungleich verteilt.
Nicht nur der Staat will sparen, auch der Kirche gehen mittelfristig die Steuereinnahmen aus. Und dann?
Die Caritas ist in der glücklichen Lage, auch Kirchensteuereinnahmen zu bekommen. Das ist bei vielen Verbänden schon anders. Wenn es weniger Kirchensteuer gibt, werden wir uns nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten umsehen müssen. Staatliche Fördertöpfe werden das wohl kaum sein können. Eine Idee ist, auf große Unternehmen zuzugehen, die Betriebssozialarbeit benötigen. Die Träger könnten mit Fachkräften aus ihren Diensten dort Sprechstunden anbieten.
Welche Folgen hat es, wenn es beinahe jedes Jahr Sozialkürzungen gibt?
Ich fürchte, wir bekommen ein Problem mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Menschen, die sich in ihrer Not und mit ihren Sorgen übersehen fühlen, fühlen sich irgendwann auch diesem Staat nicht mehr zugehörig. Das fängt bereits an, da sind die Stimmen für extremistische Parteien nur eines der Alarmzeichen.