Sommerserie "Geheimnisvolle Orte im Bistum" - Teil 5

Lange Strafe und tiefe Stille

Geheimnisvoll kann dunkel heißen, rätselhaft. Bei diesem Ort kein Gedanke. Licht durchflutet einen hohen Raum, helle Möbel bestimmen die Atmosphäre. Altar, Osterkerze, Orgel machen klar, wo sich der Besucher befindet: in einer Kapelle. Was soll da geheimnisvoll sein? Vielleicht sind es die Umstände: Die Kapelle liegt im Gefängnis.

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Geheimnisvoll kann dunkel heißen, rätselhaft. Bei diesem Ort kein Gedanke. Licht durchflutet einen hohen Raum, helle Möbel bestimmen die Atmosphäre. Altar, Osterkerze, Orgel machen klar, wo sich der Besucher befindet: in einer Kapelle. Was soll da geheimnisvoll sein?

Aus der Sakristei kommt ein drahtiger junger Mann, braun gebrannt, freundlich lächelnd. Er lädt dazu ein, den Raum auf sich wirken zu lassen, erzählt von seiner Arbeit. Paul Schubert ist hier Küster und Organist. Ehrenamtlich. Im Alltag arbeitet er.

Alltag und Ehrenamt – die Begriffe treffen das Schicksal von Paul Schubert nicht wirklich. Denn er ist gefangen, wohnt in einem kleinen Raum, bei weitem nicht so hell wie die Kapelle. In einer Zelle der Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Für viele Jahre. Im Juristendeutsch gilt er als "langstrafig". In der Anstalt hat er auch zu arbeiten; Schubert kümmert sich um die Gefangenenzeitung "Trotzdem".

Der echte Name von Paul Schubert soll verschwiegen sein, auch seine Herkunft, auch das Delikt, das ihn hinter Gitter brachte. Immerhin – während dieser Zeit in der Justizvollzugsanstalt muss er so etwas wie eine neue Beziehung zum Licht gewonnen haben, zur Helligkeit, zu einem Raum wie der Kapelle.

Seine Zelle wird abends um viertel vor acht geschlossen, morgens um sechs wieder geöffnet. "Nacht-Verschluss" in der Gefängnissprache. Eine schmale Zelle, ein kleines Fenster. wenige Quadratmeter. An solchen einsamen Nächten in einer dunklen Zelle ist nichts geheimnisvoll – sie können bedrückend sein.

Paul Schubert erinnert sich, dass ein Radioreporter im vorigen Jahr die Anstalt besuchte und eine Nacht in einer Zelle verbrachte. Den "Nachtverschluss" habe der nicht als "schlimm" empfunden. "Kein Wunder, sagt Paul Schubert, "der wusste ja, dass er morgens wieder rauskommt." Die etwa 300 Gefangenen in Oldenburg kommen morgens nicht so einfach raus.

Paul Schubert hat einen Weg gefunden, trotz allem auszubrechen. Ausbrechen – nur das nicht. Das ganze Gefängnis arbeitet daran, Gefangenen diese Möglichkeit zu nehmen. Paul Schubert bricht deshalb auf besondere Weise aus, mit E-Piano und Kopfhörer. Schon als Jugendlicher hat er Klavier gelernt; in der Haft hat er bald gebeten, das Instrument in seine Zelle stellen zu dürfen.

Später kam er mit Norbert Kisse ins Gespräch, dem katholischen Gefängnisseelsorger. Der berichtet: "Manche Gefangene lösen sich Stück für Stück von ihrer Tat, gewinnen Abstand, suchen Frieden. Und finden ihn irgendwie."

 

Ausweg aus der Enge

 

Paul Schubert hat ihn vielleicht im Kapellenraum der Anstalt gefunden. Es ist kein Wunder. Denn wer aus der engen Zelle kommt, ist geblendet von dem großen Fenster, um vieles heller als das in der Zelle. Er ist geblendet von der schieren Größe des Raums, um vieles größer als die Zelle.

Gitter gibt es in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg nur an den Außenmauern.
Gitter gibt es in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg nur an den Außenmauern. Foto: Franz Josef Scheeben

Paul Schubert geht zielstrebig zur Orgel, klappt den Deckel hoch, drückt Tasten, die Augen halb geschlossen. Die Musik klingt ruhig und friedlich. Er spielt, was ihm in den Sinn kommt. Und in diesem Moment sind das keine machtvollen Choräle.

Sein Blick wandert nach links zu den künstlerisch gestalteten Fenstern. Sie sind das Werk seines Vorgängers als Küster, auch der "langstrafig".

Dankbar hat auch Paul Schubert diese Aufgabe als Küster und Organist der Kapelle übernommen; schließlich gehört der Raum vor Gottesdiensten dann ganz ihm. Wenn er Kerzen angezündet und den Altar vorbereitet hat, trifft er andere Gefangene: Evangelisch-lutherische, katholische, russisch-orthodoxe, Mitglieder freier Christengemeinden. An einem Sonntag saßen auch einmal zwei Männer mit einer Kippa auf dem Kopf in den hinteren Reihen.

Protest unter den Gefangenen: "Hut ab in der Kirche!" Die Gäste klären auf. Als Juden tragen sie aus Achtung vor dem Herrn in der Synagoge immer das Haupt bedeckt. Geheimnisvoll.

Pastoralreferent Norbert Kisse sucht an diesem Morgen das Gespräch mit der Gruppe über diese Unterschiede. Und will später noch die beiden Juden sprechen.

Umsonst. Sie haben als Asylbewerber in Abschiebehaft gesessen und sind schon auf dem Flug nach Tel Aviv. Geheimnisvoll heißt manchmal eben auch schicksalhaft.

Geheimnisvoll kann auch "unbegreiflich" heißen. Und das bekommt der Besucher auf seinem Weg in die Anstalt zu spüren.

Vor dem Haupttor beim Klingeln – er wird von einer Kamera beäugt. Im Eingangsbereich – Handy und Personalausweis werden einbehalten, im Tausch für einen kleinen Schlüssel. In einem Seitenraum wartet ein schmaler Spind, Jacke und Tasche ablegen, einschließen.

Nein, ausziehen und Anstaltskleidung anlegen – darum geht es ja nicht. Demütigend – auch dieser Ausdruck trifft es überhaupt nicht. Der Kopf sagt: Wo, wenn nicht hier, muss es bis ins Letzte um Sicherheit gehen, beim Hinein- und beim Herausgehen im Gefängnis?

Was bleibt? Das Gefühl, verwirrt, aufgewühlt zu sein. Auch wenn es nirgends die hallenden Gittertüren gibt wie anderswo. Paul Schubert hat mit seiner Lage zu leben gelernt. Zur Not kann die Kapelle Ort des Rückzugs sein. Wo es noch Geheimnisse gibt. Wo niemand kontrollieren kann. Schon gar nicht die Gedanken und Gefühle des Gefangenen.

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