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Ihr Anliegen werden viele teilen, doch längst provoziert die “Letzte Generation” mehr Wut als Unterstützung für mehr Klimaschutz. Für Matthias Sellmann ist aber auch klar: Nicht nur die Provokateure schießen über Grenzen hinaus.
Natürlich ist das unglaublich nervig: Man hat seine Urlaubsreise gebucht – und der Flughafen wird für Stunden geschlossen. Denn da hat sich jemand auf das Rollfeld geklebt. Oder: Man muss den Termin dringend schaffen, hat auch den Stau schon eingeplant – und dann geht aber gar nichts mehr. Denn da liegt jemand auf der Autobahn. Oder: Man will dieses Selfie vor dem Brandenburger Tor – und dann sind alle Säulen rot gefärbt. Denn da hat sie jemand besprüht.
Die Aufzählung kann weitergehen. Und wohl alle werden wissen, wer die Störer sind. Die Klima-Protestgruppe “Letzte Generation” ist seit mehreren Jahren darin aktiv, das öffentliche Leben auf seine Klimariskanz hinzuweisen. Und darum kleben sie, sprühen sie, werfen sie Lebensmittel, hungern sie und konfrontieren sie. Die Gruppe agiert sehr medienwirksam und überschreitet die Grenzen zur Legalität im Namen ihrer Aufgabe.
Sie bekommen kräftig auf die Mütze
Nun weiß man generell, dass Provokateure kein leichtes Leben haben. Die Störung, die sie verursachen, wird oft in Aggression gegen die Störer verwandelt. Da kann man tausendmal den Sprich gehört haben ‚Don’t shoot the messenger‘ (frei übersetzt: Tötet nicht den Boten, er bringt doch nur die Botschaft) – wer nervt, soll das auch zu spüren kriegen.
Und die ‚Letzte Generation’ kriegt ordentlich auf die Mütze. Wohin man auch hört, sind sie die Pappkameraden für billige Späße und stammtischtaugliches Gewüte. Es gehört zum Standard von Karneval, Comedy und politischem Kabarett, sich auf Kosten der ‚Klimakleber‘ öffentlich zu empören. Selten konnte man so sicher sein, die Lacher auf seiner Seite zu haben.
Was mich wütend macht
Der Autor
Matthias Sellmann, Jahrgang 1966, ist Theologe und Sozialwissenschaftler, Professor für Pastoraltheologie an der Universität Bochum, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und des Synodalen Weges. Er ist zudem Berater der Deutschen Bischofskonferenz und Direktor des Zentrums für angewandte Pastoralforschung in Bochum. Sellmann ist Mitglied der Synodalversammlung und des Synodalen Ausschusses.
Solch preiswerte kollektive Empörung macht mich nachdenklich. Hier ist nicht der Raum, über die strategische Klugheit der Protestformen der ‚Letzten Generation‘ zu reflektieren. Wenn ein Monet mit Kartoffelbrei übergossen wird, macht das auch mich sehr wütend.
Aber auch wenn das so ist, muss ich mich doch ehrlich machen und mich fragen: Wie sonst würde man denn jemanden Getunnelten wie mich überhaupt zur Aufmerksamkeit bringen?
Komfortzonen und Doppelmoral
Ich meine, die ‚Letzte Generation‘ hat diesen Spott nicht verdient. Im Gegenteil: Diese Intensität und diese Vergemeinschaftung der “Normalen” gegen diese “Letzten” zeigt genau, was ihr Protest aufdecken will: Wir leben im sicheren Wissen um die Kipppunkte der Klimakrise unsere Routinen weiter: fliegen, Fleisch essen, billig einkaufen, bestenfalls Müll trennen. Wir möchten gerne, dass “etwas” geschieht – der Anstoß dazu müsste aber bitte von anderen kommen. Wir wünschen uns auch ordentlich problembewusste junge Leute, die uns auch gerne den Spiegel vorhalten sollen. Ist ja ihr Recht als nachkommende Generation.
Wehe aber, jemand geht uns erstens genau an diese Komfortzonen unserer Routinen. Und wehe zweitens, jemand weist uns auf diese unsere Doppelmoral hin.
Dem kleben wir eine.
In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.