Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Auslandsgemeinde zur Lage in Großbritannien

Londoner Pfarrer in Sorge: Wohin mit dem Frust der Boris-Johnson-Wähler?

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Boris Johnson hat seinen Rücktritt angekündigt - als Parteichef der britischen Konservativen, als Premierminister will er zunächst im Amt bleiben. Andreas Blum, Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Auslandsgemeinde in London, beschreibt, wo das Land derzeit steht - und wo seine Gemeinde.

Herr Pfarrer Blum, was erleben Sie nach der Ankündigung von Boris Johnson?

Es gibt natürlich eine große Schadenfreude bei all denen, die mit Boris Johnson noch nie was anfangen konnten, die ihm vielleicht auch nie verziehen haben, dass er der Brexit-Kampagne ein Gesicht gegeben hat und dass er eine solch phänomenale Mehrheit eingefahren hat, wie es sie hier seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Und natürlich bei denen, die für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union gekämpft haben, dazu gehören weite Teile des Parlaments, der Regierungsapparat, die Medien. Da sind wohl einige Sektkorken geknallt. Aber das darf man nicht verwechseln mit dem gesamten Land. Genauso wie es diese Mehrheit für den Brexit gegeben hat, war für viele Menschen, die sich vom "Establishment" nicht mehr vertreten fühlten, Boris Johnson Gesicht und Stimme.

Aber er gehörte letztlich doch selbst zum "Establishment".

Während andere behauptet haben, wer für den Brexit gestimmt hat, war einfach dumm, war nicht informiert, war Johnson eigentlich der einzige, der diesen Menschen auch weit ins linke Spektrum hinein, was man hier noch klassischerweise die Arbeiterschaft nennt, eine Stimme gegeben hat. Jetzt ist die Frage: Wer fühlt sich von dieser Demokratie noch vertreten? Führt der Rücktritt nicht zu einer noch größeren Krise? Denn immerhin ist Johnson von den Wählern mit großer Mehrheit ins Amt gehoben worden, er hat weder eine Wahl noch eine Vertrauensabstimmung im Parlament verloren, sondern seine eigene Partei hat ihm das Vertrauen entzogen. Da kann ich mir durchaus vorstellen, dass das bei den Menschen auch zum Frust über dieses System führt.

Johnson sind Verfehlungen nachgewiesen: Er hat mehrfach gelogen und zuletzt einen Menschen befördert, der unter Verdacht der sexuellen Belästigung steht. Wie integer muss ein Premierminister sein?

Es ist die Frage, was Sie von einem Premierminister erwarten. Wenn Sie einen Tugendwächter suchen, jemanden, der Prinzipien hat und diese auch bis zum Letzten durchsetzt - das war Boris Johnson nie. Er ist eher der Typ "Leben und leben lassen" und moralisch sicherlich keine Adresse. Aber das andere Argument war: Brauchen wir in diesen Zeiten nicht einen Premierminister, der die großen Fragen managt? Da sind der Brexit, die Covid-Impfkampagne und die Unterstützung für die Ukraine sicherlich die Themen, die seine Befürworter ins Feld führen und sagen: Das, worauf es wirklich ankommt, hat er geliefert. Moralisch integer zu sein, hat man nie von ihm erwartet, und das ist auch nicht eingelöst worden.

Johnson ist der erste Premierminister, der als Katholik in die Downing Street eingezogen ist. Welche Rolle spielt das?

Er hat Religion immer zur Privatsache erklärt und ist damit auch nicht hausieren gegangen. Seine Trau-Zeremonie in Westminster Cathedral fand in sehr kleinem Kreis statt und ist auch erst später publik geworden. Er ist in diesen Fragen nicht an die Öffentlichkeit getreten, er hat wirklich Staat und Kirche ziemlich auseinander gehalten.

Was für einen Premierminister oder eine Premierministerin braucht Großbritannien jetzt?

Das genau ist das Problem: Alle arbeiten sich an Johnson ab, aber es gibt weder bei der Opposition noch in der Regierungspartei einen designierten Nachfolger oder ein alternatives Programm. Das heißt, man war sich also mehr oder weniger einig, Boris Johnson muss weg, aber was jetzt kommen soll, ist völlig offen. Und jetzt könnte es sein, dass zehn oder 15 Kandidaten und Kandidatinnen ihren Hut in den Ring werfen. Aber welche Politik die vertreten, oder ob es dieselbe wird, nur jetzt moralisch auf einem anderen Level, das ist alles ungeklärt. Insofern kann man sich über Johnson ärgern. Aber die Frage ist, wie geht es eigentlich weiter? Und die ist hier im Land gerade völlig offen.

Wie diskutiert Ihre Gemeinde?

Wir sind natürlich Partei in diesem Prozedere, denn der Brexit hat für uns nur Nachteile gebracht. In Deutschland reden viele über den Brexit und die Nachteile, aber wir erleben sie hautnah. Wer geschäftlich hier in England zu tun hat, kämpft mit Zollerklärungen. Umzüge werden wahnsinnig schwierig, Einbürgerung, Freiheit bei der Wahl des Arbeitsplatzes, Visa und so weiter. Wir sind eindeutig die Verlierer. Zwar gibt es einzelne Stimmen, die für den Brexit und auch für Johnson waren, aber in der überwiegenden Mehrheit hat er nicht viele Freunde. Aber das gilt nicht nur in der deutschen Auslandsgemeinde, sondern bei vielen europäischen Gemeinden, von denen es hier in London viele gibt.

Glauben Sie, dass Johnsons Nachfolger den Brexit rückgängig machen?

Darauf sollte sich weder die EU noch sonst jemand Hoffnungen machen. Die oppositionelle Labour Party hat Anfang der Woche nochmal ganz deutlich gesagt, auch sie streben kein Zurück in den gemeinsamen Markt an. Also beide großen Parteien haben sich da festgelegt. Auch wenn wir es uns noch so sehr anders wünschen.

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