Leitartikel von Chefredakteur Markus Nolte 

Marx bietet Rücktritt an: Deutschlands Kirchenspitze wackelt

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Das ist ein Paukenschlag: Einer der mächtigsten und höchsten Kirchenvertreter in Deutschland bietet dem Papst seinen Rücktritt an. Entschieden ist damit noch nichts. Doch jetzt könnte es erst wirklich spannend werden. Eine Einordnung von Markus Nolte, Chefredakteur von "Kirche-und-Leben.de".

Deutschlands Kirchenspitze wackelt ganz gewaltig. Der aktuellste der vielen aktuellen Auslöser für ein massives Beben ist die Entscheidung von Kardinal Reinhard Marx, dem Papst seinen Rücktritt anzubieten. Damit ist die Zukunft der beiden höchsten Kirchenmänner in Deutschland, der einzigen Kardinäle an der Spitze deutscher Bistümer, offen: Der Münchner Erzbischof, 2014 in Münster gewählter, bis 2020 amtierender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und für sechs dramatische Jahre prägendes Gesicht der katholischen Kirche in Deutschland, geht heute aktiv diesen Schritt. Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki, umstritten wie kein anderer Bischof in Deutschland, hat seinen Rücktritt zwar ausdrücklich abgelehnt, dafür aber gerade eine hochrangige päpstliche Untersuchung im Haus. 

Und die Welt schaut gespannt zu: Die rheinische Erzdiözese gilt als eine der mächtigsten, weil reichsten der Welt, die bayerische ist gewissermaßen historisch sakrosanktes Papst-Bistum, wurde vier Jahre lang von Joseph Ratzinger, dem späteren Benedikt XVI. geleitet. Ein dritter Erzbischof, Stefan Heße in Hamburg, hat Franziskus ebenfalls seinen Rücktritt angeboten – und von ihm die Gewährung einer Auszeit erhalten. Eine Entscheidung über ihn steht ebenfalls noch aus.

Kurzum: Vom Norden bis in den Süden wackeln Bischofsstühle. Endlich erreicht die Auseinandersetzung um Verantwortung für den Umgang mit Missbrauch auch die höchsten Verantwortungsträger. 'Institutionelle Verantwortung' hat Marx das heute genannt, und es klang symptomatisch wie etwas völlig Neues. Doch damit ist auch klar: Dies ist immer noch erst der Anfang.

 

Der Lautsprecher wird kleinlaut

 

Großer Respekt vor Kardinal Marx und seiner persönlichen Entscheidung! In den vergangenen Monaten erschien der wortgewaltige Lautsprecher der Bischofskonferenz rasant nachdenklicher, kleinlauter, beinahe demütig: Erst sein Rücktritt als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz vor einem guten Jahr. Dann die Übertragung eines Großteils seines privaten Vermögens in eine Stiftung für Missbrauchs-Betroffene. Schließlich sein Verzicht auf das Bundesverdienstkreuz nach heftigen Protesten. Irgendetwas scheint ihn massiv angegangen zu haben.

Heute gab er zu, dass etwa die von manchen zu Unrecht als übergriffig kritisierte Frage der Journalistin Christiane Florin bei der Vorstellung der MHG-Missbrauchsstudie 2018, ob denn einer der Herren Bischöfe die Verantwortung übernehmen und zurücktreten wolle – und mehr noch Marx‘ „Nein“, dass diese Frage ihn wohl doch beschäftigt hat. Wie wichtig und berechtigt also, dass Journalisten solche Fragen stellen. Wie gut auch, dass sie, scheint’s, bei manchem Bischof doch etwas bewegen können. Und die das auch zugeben. Und sei es mit deutlicher Verspätung.

 

Klare Botschaft an den Rhein

 

Marx mag nicht amtsmüde sein, er mag auch nach 40 Jahren noch gern Priester und nach 25 Jahren noch gern Bischof sein, wie er sagt. Aber er scheint verstanden zu haben, dass er das nicht mehr in diesem Amt als Münchner Erzbischof tun will und kann. Und offenbar auch nicht mehr in einem Bischofskollegium, in dem manche „Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog ablehnend gegenüberstehen“. Deutlicher kann man Frust, Wut und Resignation kaum umschreiben.

Und darum ist Marx‘ Entscheidung natürlich auch eine klare Botschaft an den einen oder anderen bayerischen Mitbruder und allemal an den anderen Kardinal, jenen am Rhein. Es ist völlig klar, dass er ungenannt ihn meint, wenn Marx seiner Sorge über die Tendenz Ausdruck verleiht, „die systemischen Ursachen und Gefährdungen, oder sagen wir ruhig die grundsätzlichen theologischen Fragen, auszuklammern und die Aufarbeitung auf eine Verbesserung der Verwaltung zu reduzieren“.

 

Noch ist gar nichts klar

 

Noch aber ist überhaupt nichts klar. Nicht nur, ob die Erzbischöfe von München, Köln und Hamburg gehen müssen, oder ob sie im Amt bleiben werden. Nicht nur, ob weitere Bischöfe ihre „institutionelle Verantwortung“ wahrnehmen und Marx‘ Schritt folgen werden. Sondern auch nicht, was aus den Vorwürfen gegen die Bischöfe Marx, Ackermann und Bätzing im Bistum Trier wird. Und erst recht nicht, welche Ergebnisse das Missbrauchs-Gutachten für das Erzbistum München-Freising liefern wird, das nach wie vor aussteht. Was es nicht nur über Marx‘ direkten Vorgänger Kardinal Wetter, sondern über Benedikt XVI. aussagen wird. In all dem aber ist Klarheit dringend notwendig. Immer noch.

Schon gar nicht ist klar, welchen Weg der Synodale Weg nähme, wenn ihm ein so wuchtiger, visionärer und überzeugter Unterstützer wie Kardinal Marx fehlte – und womöglich ein Kardinal Woelki bliebe.

 

Eine Hoffnung – und eine bleibende Sorge

 

Marx sieht die Kirche in seinem Papstbrief – mit einem Zitat des NS-Widerstandskämpfers und -Märtyrers Alfred Delp – an einem „toten Punkt“ angekommen. Vor Medienvertretern sprach er heute aber auch von der Notwendigkeit einer Kirche "auf eine neue Art" – und von seiner Hoffnung, dass sie kommen werde. Er spricht damit vielen aus dem Herzen. 

Trotzdem: Heute sieht es so aus, als ginge in der Tat der Falsche, wie ZdK-Präsident Thomas Sternberg beklagte. Nicht auszudenken aber, dieses Rücktrittsgesuch wäre – typisch der alte Macher Marx – letztlich doch die Flucht nach vorn, bevor auch ihm Verfehlungen im Umgang mit Missbrauch nachgewiesen würden, die eine unehrenhafte Entlassung aus dem Amt zur Folge gehabt hätten. Das wäre eine erneute Katastrophe. Für Marx und für die Kirche in Deutschland.

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