Hilfswerk befürchtet langfristige Konsequenzen für den globalen Süden

Misereor klagt über „schmerzhafte Rückschläge“ durch Pandemie

Die Covid-19-Pandemie hat die Welt seit Monaten im Griff. Doch während es hierzulande um das Abfedern der Folgen geht, sind die langfristigen Konsequenzen für den globalen Süden nicht absehbar. Hilfswerke wie Misereor schlagen Alarm.

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Pirmin Spiegel ist besorgt. Der Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor hat viel telefoniert in den vergangenen Wochen mit Partnern weltweit. Unter anderem in Lateinamerika, dem Kontinent, auf dem er viele Jahre als Entwicklungshelfer gearbeitet hat. Er kennt das Amazonasgebiet und die indigenen Gemeinschaften. Spiegel weiß auch, was in den vergangenen Jahren im globalen Süden erreicht wurde. Vieles scheint nun bedroht: Die Covid-19-Pandemie hat gravierende und nicht absehbare Folgen für ärmere Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien. „Der Hunger kommt wieder“, mahnt Spiegel.

Weltweit haben dem aktuellen UN-Welternährungsbericht zufolge im vergangenen Jahr fast 690 Millionen Menschen gehungert - 10 Millionen mehr als 2018. Bis Ende 2020 könnten die Folgen des corona-bedingten Lockdowns mehr als 130 Millionen Menschen zusätzlich in chronischen Hunger treiben. Das Ziel der internationalen Gemeinschaft, den weltweiten Hunger bis 2030 zu beenden, sieht der Welternährungsbericht daher ernsthaft in Gefahr.

 

Armut, Elend, Hunger und Missbrauch staatlicher Gewalt

 

„Wir spüren bereits jetzt schmerzhafte Rückschläge durch die Pandemie“, sagt Spiegel. Das betrifft nicht nur wachsende Armut, Elend oder Hunger, sondern auch Einschränkungen der Bevölkerung und Missbrauch staatlicher Gewalt. „Besonders besorgt uns die Situation indigener Gemeinschaften, von denen einigen ein Genozid und ein Auslöschen drohen“, sagt Spiegel mit Blick auf Lateinamerika. Die Todeszahlen unter indigenen Völkern in Brasilien seien prozentual deutlich höher als in anderen Teilen des Landes.

Spiegel fordert eine umfassende Solidarität Deutschlands und Europas mit den instabilen Staaten. Die Krise biete „ein Gelegenheitsfenster“, umzusteuern und mehr Gerechtigkeit zu erreichen, sagt er. Ohne globale Kooperation werde keine Krise gelöst. Dabei habe gerade zu Beginn der Pandemie kaum einer zugehört, wenn es um die Folgen der Krise für die ärmeren Länder ging. „Die Welt, in der wir leben, ist nicht gesund“, mahnt Spiegel.

 

Umweltbundesamt sieht Nachhaltigkeitsziele in weite Ferne

 

Für den Vorsitzenden der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Karl Jüsten, fällt die Hilfe der wohlhabenden Länder für die ärmeren Staaten bislang viel zu gering aus. Wenn bei einem milliardenschweren Hilfspaket der EU nur eine Milliarde für die Entwicklungsländer vorgesehen sei, stimme etwas nicht. Es sei Zeit, dass die wohlhabenden Länder nicht nur die eigenen Interessen im Blick hätten, fordert Jüsten.

Der Präsident des Umweltbundesamtes und Entwicklungsforscher Dirk Messner beklagt gleichermaßen einen mangelnden Fokus auf Entwicklungsländer in der Covid-19-Krise. Deren schwache Gesundheits- und Wirtschaftssysteme seien überfordert und es fehle ein Weg, um Armut, Hunger und Not abzufedern. Die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 gerieten in weite Ferne. Um gegenzusteuern, brauche es mehr finanzielle Hilfen für die Länder des globalen Südens und eine bessere internationale Kooperation, fordert Messner. Nationalismus sei derzeit mehr als fehl am Platz. „Die Entwicklungsländer dürfen nicht allein gelassen werden.“ Zugleich begrüßt der Forscher, dass anders als bei vorherigen Krisen die Klimafrage eine größere Rolle spiele. Hier habe die Weltgemeinschaft offenbar ein Verständnis entwickelt.

 

Ärzte ohne Grenzen: Mehr Tote durch indirekte Folgen als durch Corona selbst

 

Auch andere Hilfswerke wie Caritas international, Diakonie Katastrophenhilfe oder Ärzte ohne Grenzen sehen die Covid-19-Pandemie und ihre möglichen Langzeitfolgen mit großer Sorge. Besonders die Bevölkerung armer Länder und Menschen in Flüchtlingscamps seien großen Risiken ausgesetzt. Ärzte ohne Grenzen beklagt darüber hinaus, dass die Gesundheitsversorgung in ärmeren Ländern massiv eingeschränkt sei. Es fehlt an Impfungen, Präventionsprogrammen und lebensnotwendigen Behandlungen bei Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder Masern. Mehr Menschen, vor allem Kinder, könnten an den indirekten Folgen der Pandemie sterben als an der Krankheit selbst.

Die katholische Kirche hat angesichts der bedrohlichen Lage jüngst einen „Sonntag der Solidarität“ ausgerufen, um am 6. September in einer Sonderkollekte für die weltweit Leidtragenden der Pandemie Spenden zu sammeln.

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