Konsequenzen nach Gutachten der Universität Münster vorgestellt

Missbrauch: Bischof Genn will Macht abgeben und viele Maßnahmen umsetzen

Bischof Felix Genn: Die Konsequenzen des Missbrauchsgutachtens für das Bistum Münster | Video: Marie-Theres Himstedt

  • Bischof Felix Genn hat ein Maßnahmenpaket vorgestellt, um sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten und künftig zu verhindern.
  • Damit reagierte er auf die Befunde der Studie der Universität Münster zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster.
  • Namentlich nannte Genn seine Vorgänger Michael Keller, Heinrich Tenhumberg und Reinhard Lettmann sowie Theodor Buckstegen, von 1986 bis 2009 Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Generalvikariat.

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Bischof Felix Genn will sein Amt weiterführen, bekennt sich aber zu schweren Fehlern und übernimmt persönliche und institutionelle Verantwortung. Als Konsequenz auf das unabhängige Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Bistum Münster, das am 13. Juni vorgestellt wurde, nannte Genn bei einer Pressekonferenz umfangreiche Maßnahmen; zum Teil seien entsprechende Schritte seitens des Bistum bereits unternommen worden.

Der Vorstellung des Maßnahmen-Pakets ging eine Bitte Genns um Entschuldigung voraus – sofern Betroffene sexuellen Missbrauchs und von Vertuschung diese Bitte überhaupt anhören könnten, räumte er ein. Betroffene hätten neben dem Anspruch auf eine unabhängige Aufarbeitung „vor allem einen Anspruch auf ein verändertes Verhalten kirchlicher Amtsträger“ und „auf das Eingeständnis von Fehlern, auf ehrliche Reue und wirkliche Umkehr.“

Genn möchte Verwaltungsgericht einführen

Folgen daraus konkretisierte Genn in mehreren Punkten. „Ich möchte Macht abgeben und zugleich meine Rolle schärfen“, betonte er. Als Bischof sei er Seelsorger und „Mitbruder“, zugleich aber auch Vorgesetzter und Richter: „Das empfinde ich als problematisch.“

Er wolle eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit einrichten, die kirchliche Verwaltungsakte durchschaubarer, transparenter und rechtlich überprüfbar mache und deren Urteil als unabhängige Kontroll-Instanz er sich „gern und freiwillig“ stellen werde. Er habe daher den emeritierten Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke gebeten, zu prüfen, wie und unter welchen Umständen eine vorübergehende diözesane kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bistum Münster jetzt schon eingeführt werden könnte, obwohl es noch keine Festlegungen hierzu aus Rom und auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz gebe. Lüdecke habe zugesagt, dass er bis Ende dieses Jahres zu Ergebnissen kommen werde.

Genn will sich an Entscheidungen diözesaner Gremien binden

Bischof Felix Genn
Bischof Felix Genn stellte ein umfangreiches Maßnahmen-Paket vor. | Foto: Michael Bönte

Als weitere Maßnahme, Macht abzugeben, nannte der Bischof eine Neuordnung der Gremienstruktur im Bistum Münster. Die Planungen hierzu hätten mit dem sogenannten Prozess zur Entwicklung pastoraler Strukturen und im Rahmen des Synodalen Wegs für die Bistümer bereits begonnen. „Obwohl kirchenrechtlich die Letztverantwortung in vielen Fragen beim Bischof bleiben wird, bin ich bereit, mich im Rahmen einer Selbstverpflichtung an die Entscheidungen diözesaner Gremien zu binden und das auch verbindlich festzuschreiben“, betonte der Bischof.

Darüber hinaus sollten Personalentscheidungen im Bistum Münster in Zukunft „transparenter, nachvollziehbarer und partizipativer“ getroffen werden. Es gelte, „männerbündische Strukturen“ aufzubrechen, die mit dazu geführt hätten, dass Missbrauchstäter von den früheren Personalverantwortlichen des Bistums Münster immer weiter eingesetzt worden seien. In der Personalkonferenz seien bis heute im Bistum Münster nur Männer und überwiegend Priester vertreten. Es lägen bereits Vorschläge vor, „wie das im Sinne von mehr Transparenz, mehr Beteiligung und auch mehr Geschlechtergerechtigkeit geändert werden kann.“

"Fall-Manager" soll Täter-Auflagen überprüfen

Als weitere Maßnahme kündigte der Bischof den Einsatz eines sogenannten „Fall-Managers“ ab dem 1. Januar 2023 an. Diese Person solle unter anderem regelmäßig überprüfen, „dass die Auflagen, die Beschuldigten und Tätern gemacht werden, eingehalten werden“.

Bischof Genn sprach auch das Problem an, die richtigen Maßnahmen bei übergriffigem, grenzverletzendem Verhalten zu treffen, die im strafrechtlichen Sinn keinen sexuellen Missbrauch darstellten und möglicherweise in Abhängigkeitsverhältnissen erfolgten. „In solchen Fällen bitte ich den unabhängigen Beraterstab zu Fragen des Umgangs mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster, mir Empfehlungen für mein Vorgehen auszusprechen. Ich verpflichte mich, diesen Empfehlungen zu folgen“, machte Genn deutlich.

Aufarbeitungskommission soll kommen

Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster solle nach der Veröffentlichung der Studie der Universität Münster weitergehen, betonte Genn und kündigte die Einrichtung einer Aufarbeitungskommission auch im Bistum Münster an. Eine entsprechende Vereinbarung gibt es in einer gemeinsamen Erklärung des früheren Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, und des Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann.

Inzwischen seien sieben Personen bereit, in einer solchen Kommission im Bistum Münster mitzuwirken: der Historiker Thomas Großbölting, die Religionswissenschaftlerin Regina Laudage-Kleeberg, der von der Landesregierung NRW benannte unabhängige Experte Christian Schrapper, der Kirchenrechtler und Sprecher des Beraterstabes im Bistum Münster Thomas Schüller, der Betroffene Bernhard Theilmann, die Betroffene Sara Wiese und die Landesrätin Dezernat Jugend und Schule beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe Birgit Westers, die auch von der Landesregierung NRW benannte unabhängige Expertin ist.

Blick auf Orden und Internate ausweiten

Pressekonferenz von Bischof Felix Genn
Das Medieninteresse an der Stellungnahme des Bischofs von Münster war groß. | Foto: Michael Bönte

Diese Personen würden in Unabhängigkeit vom Bistum – aber mit der erforderlichen Unterstützung – diese schwierige Arbeit angehen, machte der Bischof deutlich. Formell werde er die einzelnen Personen nicht in seiner Funktion als Bischof berufen: „Das könnte erneut als Zeichen der Abhängigkeit verstanden werden.“ Vielmehr werde er als Bischof das Angebot dieser sieben Personen annehmen, in der Aufarbeitungskommission mitzuwirken. Dabei sei es wichtig, auch den Blick auch auf sexuellen Missbrauch in Ordensgemeinschaften, Internaten und anderen kirchlichen Einrichtungen im Bistum Münster zu richten, möglicherweise auch das Dunkelfeld sexuellen Missbrauchs in den Blick zu nehmen und – sofern Betroffene dies wünschten  –  weitere Fallstudien anzufertigen.

Weiter wolle sich der Bischof dafür einsetzen, den Staat künftig stärker zu beteiligen und bei der Aufarbeitung mit in die Pflicht zu nehmen.

Beratungsstelle für Betroffene in Aussicht gestellt

Genn nannte im Zuge der Maßnahmen auch Überlegungen, neben den schon vorhandenen Therapie-Angeboten zusätzlich das Angebot einer traumasensiblen Begleitung für Betroffene zu machen. Ebenso sei daran gedacht, möglichst noch in diesem Jahr eine vom Bistum völlig unabhängige Beratungsstelle für Betroffene einzurichten. Wie das erfolgen könne, solle gemeinsam mit Betroffenen überlegt werden. Zudem werde er einzelne Fälle, die in der Studie genannt würde, im Blick auf eine Meldung nach Rom noch einmal überprüfen lassen und, wo es notwendig, sei, die gebotenen Maßnahmen ergreifen.

Unmissverständlich erklärte der Bischof: „Priester und andere Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sexuell missbraucht haben, werden nicht mehr in der Seelsorge eingesetzt, weder in Pfarreien noch in Einrichtungen.“ Kirchliche Mitarbeitende, die nicht in der Seelsorge eingesetzt seien und Menschen sexuell missbrauchten, müssten mit harten arbeitsrechtlichen Sanktionen rechnen.

Ex-Bischöfe haben schwere Fehler gemacht

In seiner Stellungnahme zu persönlichen Verantwortlichkeiten richtete Genn den Blick auf seine verstorbenen, in der Bischofs-Gruft des Paulusdoms beigesetzten Amtsvorgänger Reinhard Lettmann, Heinrich Tenhumberg und Michael Keller. Sie hätten im Umgang mit sexuellem Missbrauch „schwere Fehler“ gemacht: „Sie ließen sich von einer Haltung leiten, die den Schutz der Institution im Blick hatte, nicht aber die Betroffenen.“

Andere Verantwortungsträger, die sexuellen Missbrauch vertuscht hätten, seien an vielen anderen Orten beigesetzt, die Weihbischöfe Josef Voß und Laurenz Böggering etwa auf dem Domherrenfriedhof des St.-Paulus-Doms. „Ich werde die Toten ruhen lassen, die Wahrheit aber muss ans Licht“, machte der Bischof deutlich.  Wie dies genau erfolgen und was dafür eine gute und angemessene Form sein könne, solle mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs abgesprochen werden „Bis diese Überlegungen abgeschlossen sind, bleibt die Bischofsgruft geschlossen.“

Werner Thissen bekennt schwere Fehler

Zum Umgang mit noch lebenden Verantwortungsträgern nannte Genn den früheren Erzbischof von Hamburg, Werner Thissen, der zuvor Weihbischof und Generalvikar im Bistum Münster war. Ihm werde in der Studie ein deutliches Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster nachgewiesen. Genn habe mit Thissen in dieser Woche gesprochen: „Er bekennt sich, was er bereits öffentlich getan hat, zu diesen schweren Fehlern.“

Auch den emeritierten Domkapitular Theodor Buckstegen, der von 1986 bis 2009 Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat war, erwähnte der Bischof. Ihm werde wird in der Studie ein massives Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch nachgewiesen. Buckstegen habe Genn gebeten, ihn als Domkapitular zu entpflichten; er, Genn, werde dieser Bitte nachkommen.

Genn bleibt als Bischof im Amt

Im Zuge der persönlichen Verantwortung nannte der Bischof jedoch zuerst eigene Fehler: Er selbst hätte in einigen Situationen anders handeln müssen. „Vielleicht erwarten manche, dass ich aufgrund der Fehler, die ich eingestanden habe, zurücktreten müsse. Soweit ich selbst das überhaupt für mich beurteilen kann, glaube ich nicht, dass ich sexuellen Missbrauch vertuscht habe und die Interessen der Institution über die Sorge um die Betroffenen gestellt habe.“

Er wolle daher die ihm verbleibende Amtszeit als Bischof von Münster „mit höchstem Engagement nutzen, weiterhin und verstärkt auf das zu hören, was Betroffene und unabhängige Gremien mir für den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster empfehlen und versuchen, das umzusetzen“. Seine Zielperspektive werde dabei sein, „sexuellen Missbrauch zu vermeiden“.

Erste Schritte bereits umgesetzt

Einige Schritte dorthin seien im Bistum Münster bereits umgesetzt: Im Zuge der Veröffentlichung der MHG-Studie seien alle Akten, die Hinweise auf ein Missbrauchsgeschehen enthielten, der Staatsanwaltschaft Münster übergeben worden. Die Aktenführung sei professionalisiert und an die allgemein gültigen Standards angepasst. Alle Betroffenen, soweit datenschutzrechtlich möglich, könnten die beim Bistum Münster vorliegenden Akten, die ihren „Fall“ betreffen, einsehen.

Genn verwies auch auf die im April 2019 eingerichtete, weisungsunabhängige Interventionsstelle im Bistum Münster. Ihr Kernauftrag sei es, dass den Anliegen der Betroffenen ausreichend Aufmerksamkeit gegeben und Rechnung getragen werde.

Neue Referentin für Sexuelle Bildung

Im März vergangenen Jahres hatte Genn zudem eine Stelle für Diversität im Bistum Münster Bistum eingerichtet als „ganz praktischer Ausdruck davon, dass ich und andere Verantwortungsträger in der katholischen Kirche – und letztlich auch das so genannte kirchliche Lehramt – ein neues Verständnis von den vielfältigen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten brauchen".

Seit Anfang Juni gebe es im Bistum Münster zudem eine Referentin für Sexuelle Bildung. Der Mangel an qualifizierter sexueller Bildung sei, das habe unter anderem die MHG-Studie benannt, ein Risikofaktor für sexuelle Gewalt. „Auch die Studie der WWU macht sehr deutlich, wie problematisch es ist, wenn Sexualität vor allem als sündhaft angesehen wird und wenn über Sexualität nicht gesprochen werden kann“, legte Genn dar. Dem wolle er für das Bistum Münster mit der neuen Stelle nachhaltig entgegenwirken.

Null Toleranz von geistlichem Missbrauch

Der Bischof erwähnte auch den sogenannten geistlichen Missbrauch, dem er mit null Toleranz gegenübertrete. Die Anstrengungen dagegen sollten weiter verstärkt werden. Ziel sei die Einrichtung einer Clearingstelle mit Experten aus unterschiedlichen Professionen.

Darüber hinaus hätten Gespräche mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs in der Priesterausbildung inzwischen ihren festen Platz. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und Ausbildungselemente zur menschlichen Reife spielten inzwischen eine wichtige Rolle, ebenso wie in der Ausbildung der Ständigen Diakone sowie der Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten.

Kein Betroffenenbeirat

Bischof Genn begründete auch, warum er sich entschieden habe, für das Bistum Münster keinen Betroffenenbeirat oder Betroffenenrat einzurichten oder Betroffene in ein solches Gremium zu berufen – „im schlimmsten Fall sogar noch nach einem Auswahl- oder Bewerbungsverfahren“. Das wollten die Betroffenen, mit denen er in Kontakt sei, „verständlicherweise nicht“. Stattdessen „beschreiten wir im Bistum Münster den Weg einer völlig bistumsunabhängigen, selbst organisierten Betroffenenbeteiligung“.

Auch der Beraterstab zum Umgang mit sexuellem Missbrauch sei bereits seit einigen Jahren mit Menschen unabhängig vom Bistum besetzt. Bis April 2019 seien gut die Hälfte der berufenen Personen Mitarbeitende des Bischöflichen Generalvikariates gewesen. „Die jetzt mitwirkenden Personen stehen in keinem Abhängigkeitsverhältnis zum Bistum Münster. Sie beraten mich beim Umgang mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs und beim Vorgehen, wenn es Meldungen sexuellen Missbrauchs oder von Grenzüberschreitungen gibt“, erläuterte der Bischof.

Prävention für Mitarbeitende

Zum Bereich der Prävention im Bistum Münster nannte er die Zahl von 50.000 Mitarbeitenden, darunter alle Seelsorgerinnen und Seelsorger, die seit 2011 im Bistum Münster an Präventionsschulungen teilgenommen hätten. Diese Schulungen würden alle fünf Jahre wiederholt. Zudem müssten im Bistum alle Pfarreien und caritativen Einrichtungen Institutionelle Schutzkonzepte erstellen, die Teil der Präventionsarbeit seien.

Genn wies in der Pressekonferenz auf eine neue Webseite hin, über das Betroffene sexuellen Missbrauchs oder Zeugen mögliche Fälle sexuellen Missbrauchs anonym melden können. Er wisse dass es vielen Betroffenen schwerfalle, von ihrem Missbrauch zu berichten. Jede Meldung eines möglichen sexuellen Missbrauchs werde der Staatsanwaltschaft Münster übergeben, versicherte der Bischof. Das Portal ist über die folgende Internetadresse erreichbar: anonym-missbrauch-melden.de

Studie ist Staatsanwaltschaft übergeben worden

Als wichtiges Resultat des Gutachtens berichtete Genn von einem Schritt, den er unmittelbar am vergangenen Montag unternommen habe: Er habe die Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität dem Münsteraner Oberstaatsanwalt Michael Kruse zukommen lassen „mit der Bitte, sie im Blick auf mögliche strafrechtlich relevante Vorgänge zu prüfen und zu bewerten“.

Trotz dieser konkreten Schritte und Maßnahmen, so machte Genn deutlich, sei alles keineswegs „alles bestens und erledigt“. „Bestens“ sei es bei weitem noch nicht. „Und erledigt wird dieses Thema nie sein.“

Die komplette Stellungnahme von Bischof Genn in einer PDF-Datei.

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