Die katholische Kirche zwischen Schockstarre und Mahnen

Missbrauch – Es fehlen die Worte, aber schweigen darf man nicht

Sexueller Missbrauch in der Kirche und Vertuschung dieser grauenhaften Taten - schon wieder. Was dennoch ans Licht gekommen ist, verschlägt einem erneut die Sprache. Doch zu schweigen wäre die falsche Reaktion. Was wäre die richtige?

Anzeige

Sexueller Missbrauch in der Kirche und Vertuschung dieser grauenhaften Taten - schon wieder. Was dennoch ans Licht gekommen ist, verschlägt einem erneut die Sprache. Doch zu schweigen wäre die falsche Reaktion. Was wäre die richtige?

Stille ist ein hohes Gut, Schweigen ebenso. Allerdings nicht angesichts der früher als geplant bekannt gewordenen Zahlen einer Studie zu sexuellem Missbrauch durch Geistliche in Deutschland – und genauso wenig angesichts des erneuten Missbrauch-Skandals in den USA, der in der Folge sogar vatikanische Mauern erbeben lässt. Sexualisierte Gewalt durch Priester – diese Ungeheuerlichkeit wiederholt sich derzeit ähnlich auch in anderen Ländern und wird nach Expertenmeinung auch in Staaten ausbrechen, die sich für besonders katholisch und damit immun halten.

Was bislang an Monstrositäten ans Licht gekommen ist, verschlägt einem – wieder einmal – die Sprache. Kaum ein Wort könnte annähernd das Entsetzen, den Ekel, die unbändige Wut ausdrücken. Da fehlen die Worte, und Stille und Schweigen sind randvoll.

 

Reden erst, wenn das Schweigen zu laut wird

 

Das andere Schweigen und die andere Stille sind eher ein Verschweigen und Stillhalten. In den USA und mutmaßlich auch in Deutschland ist wieder einmal herausgekommen, dass Geistliche Kinder missbraucht und andere Geistliche all das unter der Decke und den Mund gehalten haben. Es gibt Dinge in der Kirche, über die redet man halt nicht, oder man findet „Lösungen“ in aller Stille.

Manchmal indes wäre Schweigen gut gewesen. Vorgestern, am 11. September, meinte Kurienerzbischof Georg Gänswein in Rom, der Missbrauchsskandal sei das „9/11“ der Kirche. So berichtete es „Vatican News“. Man sollte doch wohl eher meinen, der Missbrauchsskandal wäre das „9/11“ der durch Kleriker missbrauchten Kinder. Solange hochrangige Kirchenvertreter meinen, es ginge um einen Schaden der Kirche, haben sie nichts verstanden. Dann wäre weiter klar: Das System ist das Problem.

Der Eindruck vieler: Erst wenn das zum Schweigen gebrachte Leid der unzähligen Missbrauchten und das verschwiegene Versagen der Täter jeder Art unüberhörbar wird, dann sagen auch die Verantwortlichen Worte wie Schande und Scham, Schmerz und Reue. Wollen gar – wie unlängst der Bischof von Portsmouth – mal richtig lange drüber reden, am besten bei einer Weltbischofssynode in Rom.

 

Der Papst schreibt Merkwürdiges

 

Und der Papst schrieb vor drei Wochen einen Brief. „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“, lautet der erste Satz dieser Botschaft von Franziskus an alle Gläubigen. So wichtig und gut es ist, dass es diesen Brief gibt: Franziskus hat lange dafür gebraucht. Noch auf dem Rückflug von Chile, wo er mit Missbrauchsvorwürfen und Vertuschung durch einen Bischof konfrontiert wurde, hatte auch er zunächst von „Verleumdung“ gesprochen. Später entschuldigte er sich dafür, ließ es mächtig donnern über den chilenischen Bischöfen. Und jetzt zitiert er alle Vorsitzenden der Bischofskonferenzen weltweit zu einem Treffen nach Rom. In einem halben Jahr.

In seinem Brief an das „Volk Gottes“ schreibt der Papst auch Merkwürdiges: „Mit Scham und Reue geben wir als Gemeinschaft der Kirche zu, dass wir nicht dort gestanden haben, wo wir eigentlich hätten stehen sollen. ... Wir haben die Kleinen vernachlässigt und allein gelassen.“

 

Wer ist „wir“ im Brief von Franziskus?

 

Fragt sich, wer „wir“ ist! Das ganze Volk Gottes? Sie und ich auch? Die engagierten und zugleich leidenden Katholiken, die sich wegen dieser Skandale mal wieder fragen lassen müssen, warum sie noch zu dem „Laden“ gehören? Womöglich auch die Opfer des Missbrauchs, die doch wohl auch zum Volk Gottes gehören? Sie alle – „wir“ – haben nicht da gestanden, wo wir hätten stehen sollen? Starker Tobak!

Der Kölner Theologe und Pastoralreferent Peter Otten findet das in seinem Internetblog „Theosalon“ höchst problematisch: „Das Schreiben enthält ein Merkmal, in dem der Funke des Übels, was wir in Kirchensprech doch so oft antreffen, schon grundgelegt ist. Denn das undifferenzierte ‚Wir‘ ist übergriffig.“

Am Ende fragt Otten: „Was ist eigentlich so schwer daran zu sagen: ‚Wir, die Bischöfe und der Papst als Hirten und Lehrer des Volkes Gottes haben Mist gebaut und tragen die Konsequenzen. Wir haben schlecht geleitet oder gar nicht geleitet. Wir haben nicht hingeschaut. Wir waren es. Ich war es.‘ Es wäre allerhöchste Zeit.“

 

Alles ans Licht!

 

In der Tat. Alles ans Licht! Wie erhellend, dass die erste Kathedrale des 21. Jahrhunderts in den USA, im kalifornischen Oakland entstanden ist und „Christus das Licht“ heißt! Draußen, hinter der Wand, an der innen der Bischofsstuhl steht, gibt ein Werk des japanischen Künstlers Masatoshi Izumi dem entsetzten Verstummen Ausdruck: Ein gespaltener Rundstein erinnert an „die Unschuldigen, die sexuell von Klerikern missbraucht wurden“, heißt es auf einer kleinen Tafel.

So gut, so vorbildlich. Fragt sich nur, warum der Mahnstein nicht da liegt, wo das Volk Gottes sich versammelt: in der Kirche.