André Niedostadeks Erlebnisse auf 1.700 Kilometern der Via Francigena

Mit dem Motorrad von Canterbury nach Rom auf Pilgerreise

Die Via Francigena geht 1.700 Kilometer von Canterbury nach Rom. André Niedostadek bewältigte den historischen Pilgerweg mit dem Motorrad. Ein Pilgergefühl zwischen Fahrtwind, Kultur und Spiritualität.

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In seinem Leben gibt es ein wichtiges Motto, sagt André Niedostadek: „Ich will mir nie sagen müssen, warum ich das nicht gemacht habe – jetzt ist es zu spät.“ Das griff auch, als er Anfang 2017 beim Aufräumen ein Buch in der Hand hielt, das er vor mehr als 20 Jahren während seines Studiums in einem Antiquariat in Münster gefunden hatte. Es handelte von der Via Francigena, dem Frankenweg, einem knapp 1.700 Kilometer langen mittelalterlichen Pilgerweg von Canterbury bei London nach Rom. „Damals hatte ich mir vorgenommen, diese Strecke zu bewältigen.“

Eine historische Verbindung zwischen England und Italien. Das traf bei dem heute 50-Jährigen aus Telgte schon damals einen Nerv. „Ich bin verliebt in Großbritannien, habe dort viel Zeit verbracht und einige Semester studiert.“ Italien kannte er volle allem von den Urlaubsreisen mit seinen Eltern. Die wohl wichtigste Erinnerung an das Mittelmeerland aber ist eine andere: „Ich habe meine Frau dort kennengelernt.“

 

Drei Wochen mit seiner alten Honda unterwegs

 

Eigentlich war seit dem Anfang seines Traums schon viel zu viel Zeit vergangen. Vor drei Jahren schuf er deshalb sofort Tatsachen. „Von der Wiederentdeckung des Buchs bis zum Start in England vergingen nur wenige Monate.“ Drei Wochen Zeit hatte sich der Dozent für Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht an der Hochschule Harz dafür freigeschaufelt. Zu wenig, um als klassischer Pilger zu Fuß, auf dem Pferd oder mit dem Fahrrad die Etappen zu bewältigen. Seine Idee war ohnehin eine andere: „Eine meiner weiteren großen Lieben ist mein Motorrad.“ Das passte gut.

Es war aber nicht allein das Fahrgefühl auf seiner 15 Jahre alten Honda Deauville, die ihn mit ihren 60 Pferdestärken durch Frankreich und die Schweiz über die Alpen nach Italien bringen sollte. Es war auch das Interesse an den vielen kulturellen Höhepunkten entlang der Strecke. Und es war vor allem eins, sagt Niedostadek: „Ich wollte die Tour unbedingt allein machen, wollte erleben, was passiert, wie mich diese Zeit verändern würde.“

 

Selbsterfahrungsseminar für den Dozenten

 

Das hat auch einen beruflichen Hintergrund. Mit seinen Studierenden im Harz stehen nicht selten Fragen dieser Art auf dem Lehrplan: „Wie kann ich mit mir und meinen Gefühlen in der Arbeitswelt umgehen?“ Oder: „Wie schaffe ich es, nicht immer nur zu reagieren, sondern selbst zu agieren.“ Im Rückblick waren die Tage im Sommer 2017 sein ganz persönliches Selbsterfahrungs-Seminar, sagt der Dozent. „Ich kann jetzt authentischer über diese Dinge sprechen.“

Dafür verantwortlich waren vor allem die vielen Begegnungen und kleinen Ereignisse in den abwechslungsreichen Landschaften, die sich neben den geplanten Besuchen von Kathedralen, Burgruinen und Gedenkstätten ergaben. „Das hatte manchmal etwas Spirituelles, etwas, das mich tief berührte und umdenken ließ.“ Als er in Italiens Bergen einer Straße folgte, die als Sackgasse gekennzeichnet war, fuhr er mitten hinein in so ein Erlebnis.

 

Sackgasse wurde zum Highlight

 

Er hatte die Hoffnung am Ende des Weges mit dem Motorrad nur ein Hindernis umkurven zu müssen und weiterfahren zu können. Dem war nicht so. Der Weg wurde immer schmaler, bis er in einem kleinen Bergdorf zwischen zwei Häusern stecken blieb. „Ich konnte weder vor noch zurück, mein Motorrad nicht mal wenden.“ In der Mittagshitze war kein Mensch auf der Straße, der ihm helfen konnte. Bis plötzlich eine alte Dame neben ihn trat und sich die Situation schildern ließ. Ihre Reaktion bringt heute noch ein Lächeln in sein Gesicht, wenn er sich daran erinnert. „Sie bot mir einen heißen Espresso in ihrem kühlen Haus an.“ Dann telefonierte sie und kurze Zeit später stand Hilfe vor der Tür. „Ein Kerl wie Bud Spencer, mit dem ich mein Motorrad aus der Enge befreien konnte.“


Kurvengeflüster -
Entlang der Via Francigena von Canterbury nach Rom
André Niedostadek
252 Seiten
Thurm Verlag, 2020
ISBN: 978-3-945216-39-2

Genau diese Momente verändern Ansichten und Einschätzungen, sagt Niedostadek. „Ich habe immer wieder erlebt, dass ich die Dinge laufen lassen kann, dass es sich fügt, auch wenn mal etwas aussichtslos erscheint.“ Einen solchen, „tiefen Moment“ erlebte er auch in den mittelalterlichen Ruinen des Zisterzienser-Klosters von Vauclair in Frankreich. Kurz zuvor hatte die Batterie seines Motorrads gestreikt und er war sich nicht sicher, ob es nach der Station in den alten Gemäuern wieder anspringen würde. „Eigentlich war das ein Augenblick der Unruhe und Sorge, weil ich weit weg von jeder Hilfe war“, sagt er. Auf einem Stein sitzend aber holte ihn eine große Ruhe ein. „Die Stille an diesem Ort, an dem einst das Leben pulsierte, brachte mir Zuversicht.“ Zurück bei seinem Motorrad ließ dieses sich problemlos starten.

 

Motorgeräusche und Ruhephasen

 

Solch friedliche Augenblicke erlebte er immer wieder. Vielleicht wurden sie unterstützt vom Kontrast der Fahrgeräusche zur Stille seiner Pausen. „Das Wubbern des Motors erlosch und verstärkte so das Gefühl der Rast.“ Die Musik, die er auf den ersten Etappen noch über Kopfhörer laufen ließ, stellte er schon bald aus. Er entwickelte nach und nach sein eigenes Pilgergefühl zwischen Fahrtwind, Besichtigungen, Begegnungen und eben jenen Situationen, die nicht geplant waren.

So stand er einmal in Frankreich auf einem Marktplatz, als ihn ein junger Mann fragte, mit was für einer Kamera er fotografiere. „Bei mir stellte sich sofort ein ungutes Gefühl ein“, sagt Niedostadek. „In meinem Kopf hatte ich sofort das Bild des Gauners, der mich bestehlen wollte.“ Womit er falsch lag. Denn sein Gegenüber hatte tatsächlich nur Interesse an seiner Technik. Als dessen Freundin dazu kam, erzählte Niedostadek von seinem Pilgerweg. Die junge Frau zog einen Schlüssel aus der Tasche, um die Touristenzentrale des Ortes wieder aufzuschließen, in der sie arbeitete. „Sie wollte mir unbedingt den Pilgerstempel für die Via Francigena geben.“

 

Eigene Eigenschaften gespiegelt

 

Er muss lachen, wenn er daran denkt, wie ihm damals seine Vorurteile so markant vor Augen geführt wurden. „Da gab es noch viele weitere Eigenschaften von mir, auf die ich mit der Nase gestoßen wurde.“ Die Auseinandersetzung mit ihnen war in allen Fällen lohnenswert, sagt er. Niedostadek spricht davon als Pilger, der seine Erfahrungen auch an seine Studenten weitergeben möchte. „Gerade in der jetzigen Zeit, in der sich vieles schnell verändert, muss ich mich, meine Eigenarten und Ziele genau kennen, um meinen Weg bewusst und beharrlich gehen zu können.“

Ein echter Pilger ist er am Ende nicht geworden. Zumindest nicht so einer, wie es die Pilger-Ehre vorschreibt. Dafür hätte er mindestens die letzten 100 Kilometer bis nach Rom ohne Motorrad bewältigen müssen. Er fuhr aber auch die 15. Etappe von Capodimonte in die Ewige Stadt auf seiner Honda. „Anders hätte es nicht zu mir und meiner persönlichen Pilgerstrecke gepasst.“

 

Der Weg passte zu seiner Spiritualität

 

Es waren am Ende aber Tage, die rundum zu ihm und seiner Spiritualität passten, sagt Niedostadek. „Ich bin nicht sehr religiös, setze mich aber oft mit existentiellen Themen auseinander, auf christlichem Hintergrund.“ Seine Schulzeit auf dem bischöflichen Internat Collegium Johanneum auf der Loburg bei Ostbevern hat dafür einen Grundstein gelegt. Es sei ein Gefühl, das in der Motorradfahrer-Szene nicht selten sei. „Da sind viele Gespräche nah dran an den Fragen von Leben und Tod.“ Seine Erlebnisse auf der Via Francigena haben ihm Antworten gebracht, die er nicht für sich behalten möchte. Er hat sie aufgeschrieben und wird unter dem Titel „Kurvengeflüster“ veröffentlicht. Vielleicht animiert er damit den einen oder anderen Biker, ein ähnliches Abenteuer zu wagen, bevor dieser sich ärgern kann, dass es zu spät für das Vorhaben geworden ist.

Via Francigena - der Frankenweg nach Rom
Die „Via Francigena“ – der Frankenweg – ist ein knapp 1.700 Kilometer langer mittelalterlicher Pilgerweg von Canterbury bei London über Frankreich und die Schweiz nach Rom. Er entstand nach Aufzeichnungen von Erzbischof Sigerich des Ernsten von Canterbury bei dessen Rom-Reise im Jahr 994. Wichtige Etappenorte sind Dover, Calais, Arras, Reims, Chalons-sur-Marne, Besancon, Lausanne, Sankt Moritz, Grosser Sankt Bernhard, Aostatal, Parma, Lucca, San Gimignano, Viterbo, Rom. Mit dem Boom des „Jakobswegs“ in den 1990er Jahren wurde auch die „Via Francigena“ wiederbelebt. Die meisten Pilger kommen aus Italien, Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Die jährliche Gesamtzahl wird auf 50.000 geschätzt.

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