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Es herrscht Aufregung im Hause Vernauer. Das liegt nicht nur an Eddi, dem neunjährigen Tibet-Doodle, der verzückt den neuen Besucher anbellt. Monika Vernauer hält den Telefonhörer noch in der Hand: „Das war gerade die Betreuerin meines Sohnes, die mich angerufen hat. Sein Mitbewohner ist verstorben.“
Das war vor drei Tagen. Die Nachricht ist gesackt. Aber das Ereignis beschäftigt ihren ältesten Sohn, der geistig und körperlich schwer behindert ist. Gerrit ist 27 Jahre und lebt in einem Caritaswohnheim für Menschen mit Behinderung. „Er hat seit drei Tagen nicht gut geschlafen. Auch wenn er kognitiv weit zurück ist, so etwas bekommt er mit“, meint Monika Vernauer und legt den Hörer auf den Sekretär. Sie bleibt mit der Betreuerin in Kontakt und wird im Notfall zu Gerrit nach Enningerloh fahren.
Sie braucht nur eine Idee - und los geht's
Alle zwei Wochen übers Wochenende und in den Ferien kommt Gerrit nach Hause. Fotos von ihm und seinem jüngeren Bruder stehen auf einem Schränkchen. Auf dem Küchentresen steht ein wuchtiger, schmuckvoller Kerzenständer, gefertigt aus aufeinandergestapelten Suppenterrinen. Die 58-Jährige „werkelt“ gern, wie sie sich ausdrückt. Das Material ist fast egal, die ausgebildete Krankenschwester braucht nur eine Idee, und schon legt sie los. „Mein Ventil“, sagt sie und lacht.
Monika Vernauer ist eine große Person mit einer herzlichen Ausstrahlung. So leicht wirft sie nichts aus der Bahn: „Wenn doch, dann gehe ich mit dem Hund raus.“ Nach dem Abitur begann sie mit 19 Jahren eine Ausbildung zur Krankenschwester im Hospital der Hiltruper Missionsschwestern. Zuvor war ein hauswirtschaftliches Praktikum fällig. Das absolvierte sie in einer Großküche in den Ferien – gegen Bezahlung: „Ich kam mir gerissen vor, pfiffig und reich“, sagt sie mit einem Schmunzeln.
Mit viel Selbstironie
Seit sie vier Jahre alt ist, lebt sie in Hiltrup, „Nie woanders gelebt, nie woanders gearbeitet“, sagt sie und lächelt verschmitzt. „Noch heute treffe ich Leute im Dorf, die sagen zu mir: ,Schwester Monika, wissen Sie noch, ich hab doch bei ihnen gelegen!‘“ Über die Jahre wurde die Schreibarbeit auf der Station immer mehr, die Zeit für Gespräche im Krankenzimmer weniger.
Trotzdem, meint Monika Vernauer mit einem Lachen und viel Selbstironie: „Für jemanden wie mich mit einem angeborenen Helfersyndrom ist das mein Traumberuf.“ Heute macht sie nur noch Nachtdienste und kann sich die Zeit anders einteilen: „Oft können die Patienten nicht schlafen und freuen sich dann total über Gespräche. Das ist das Nette beim Krankenschwester-Dasein, das Gefühl, man hat den Mitmenschen was Gutes getan.“ Zehn Jahre hat sie in Vollzeit auf Station gearbeitet, dann geheiratet und Kinder gekriegt. „Der Klassiker“, sagt sie.
Eigentlich. Denn dann kam Gerrit, das war kein Klassiker. Zahllose Aufenthalte in Krankenhäusern, schlaflose Nächte, ein Kind, das nicht hören und sprechen kann: „Im Krankenhaus habe ich neben Gerrit auf einer Matratze geschlafen. Mein Mann kam abends nach der Arbeit vorbei.“ Geholfen hat ihr damals auch die Unterstützung ihrer Eltern und ihrer drei Geschwister. „Das war auch die Zeit, wo ich schokoladensüchtig geworden bin. Wenn mich wer gefragt hat: ,Was kann ich dir mitbringen?‘, hab ich geantwortet ,Schokolade!‘“
„Wir dachten, wir verlieren ihn“
Süßigkeiten, Mitmenschen, Gespräche, das half in der Zeit der Angst. „Wir dachten, dass wir ihn doch noch verlieren.“ Im Anschluss an eine komplikationsreiche Herz-Operation hieß es, dass Gerrit weder laufen noch sprechen, hören oder sehen könne. Später zeigte sich jedoch, dass es glücklicherweise nicht so war. Dann kam der zweite Sohn zur Welt. Er war gesund, „bloß hat der liebe Gott nicht drauf geachtet, dass es auch ein ruhiges Kind war. Er hat bestimmt fünf Monate durchgeschrien.“ Nachts ist sie mit ihm umhergewandert, die Arme dicht vor dem Kopf des Kindes, „damit er sich nicht stößt, wenn ich im Halbschlaf gegen die Wand gelaufen bin.“
Geschwisterkinder von Menschen mit Behinderung hätten es nicht leicht, sagt sie. Es war immer Gerrit, der die Aufmerksamkeit auf sich zog: „Gerrit liebte Knöpfe und Schalter, alles Technische war seins. Auf dem Weg in den Urlaub hat er einmal am Flughafen Alarm ausgelöst. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Wir wollten doch nur schön in den Urlaub fliegen.“
Ausgleich mit Hammer und Meißel
Zwischen den beiden Jungs fühlte sie sich zerrissen, stand ständig unter Strom. Die tägliche Fürsorge für Gerrit und die Sorge, ob sie ihrem zweiten Sohn auch gerecht würde, forderten sie enorm heraus. In dem ganzen turbulenten Familienalltag meinte schließlich ihr Umfeld: „Du musst jetzt mal was für dich tun“.
So kam sie zu einem Workshop in Bildhauerei. Ein paar Frauen und zwei Männer, „die mal richtig was mit Hammer und Meißel anstellen wollten“, wie Vernauer erzählt. Der Dozent und Künstler Fritz Steller, über 60, wurde eine Art Doktorvater für sie. Ein weitgereister Mann mit Stationen in Afrika und England. „Er hat immer gesagt: Wenn dich jemand fragt: ,Können Sie mir das gestalten?‘, sag immer ,Ja‘. Dann kannst du es auch!“
„Ich habe mich frei gefühlt“
Diese Einstellung wurde für sie eine Art Lebenshilfe. Mit ihrem Kurs werkelte sie nun alle 14 Tage samstags mit Stein, Beton oder Muschelkalk: „Dort habe ich mich frei gefühlt.“ Daraus entstand ihr ehrenamtliches Engagement für die Dekoration in der Mutterhauskapelle der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu am Krankenhaus Münster-Hiltrup. Das Kreative in ihr bekam endlich eine Richtung. Dennoch war Anhalten und Innehalten angesagt, bis Gerrit mit knapp 16 auszog und in eine Kinderheileinrichtung kam: „Ich habe Rotz und Wasser geheult.“ Doch sie wollte auch Freiräume für ihr anderes Kind. Aber der mittlerweile Zwölfjährige war das nicht gewohnt. Für Vernauer eine überraschende, auch schmerzhafte Erkenntnis: „Mein zweiter Sohn wurde groß und wollte nicht unbedingt mehr Zeit mit mir verbringen.“
„Immer ja sagen, du kannst das schon!“
Die Anlaufstelle „Frauen und Beruf“ der Stadt Münster eröffnete ihr schließlich eine neue Perspektive neben ihren Nachtschichten im Krankenhaus: „Ich habe auf dem Friedhof das Grab meiner Großtanten gepflegt.“ Das machte sie augenscheinlich so gut, dass Friedhofsbesucher sie darauf ansprachen. „Da hatte ich wieder den Künstler Fritz im Hinterkopf: „Immer ja sagen, du kannst das schon!“ 2009 holte sie sich einen Kleingewerbeschein, „und dann hab ich richtig losgewerkelt“. 90 Gräber hatte sie zu Spitzenzeiten zu pflegen. Doch damit nicht genug. „Ich hatte immer das Gefühl, ich muss das ganz richtig machen.“
Mit 56 noch einmal in die Schule
Also meldete sie sich mit 56 Jahren in Essen bei der Gartenbaufachschule für den Blockunterricht zur staatlich geprüften Friedhofsgärtnerin an: „Die wollten mich erst nicht nehmen, weil ich ja selbstständig war.“ Ein Gärtner, bei dem sie gelegentlich aushalf, schrieb ihr eine Empfehlung.
2016 war kein einfaches Jahr: Monika Vernauers Vater starb, ihr Mann trennte sich von ihr, und ihre Mutter wurde dement. Monika Vernauer stürzte sich mit Feuereifer in ihre Gesellenprüfung. Der Kontakt zu den Mitarbeitern an der Berufsschule tat ihr gut. „Mutti“, wurde sie von ihren jüngeren Kollegen genannt. Sie schloss schließlich als Jahrgangsbeste ab. Ihr Prüfungsthema: „Ein Hippi-Grab mit vielen bunten Blumen – eben so, wie man sich die letzte Ruhestätte einer lebenslustigen 68erin vorstellt!“
Eine Skulptur fürs "Moseskörbchen"
Die Prüfung bestand aus einem fingierten Kundengespräch mit Angehörigen, die eine Grabgestaltung für ihre Verstorbene in Auftrag geben wollten: „Reden kann ich ja gut“, meint Vernauer und dreht die Kaffeetasse in den Händen.
Doch nicht immer kommt das Thema Tod so zuversichtlich daher. Durch ihre Verbindung zum Hiltruper Krankenhaus gelangte sie zu der Initiative „Moseskörbchen“. Vernauer gestaltete eine Bronze-Skulptur für das Gräberfeld, auf dem Kinder beigesetzt weden können, die vor der Geburt verstorben sind.
Der Tod als Begleiter
Der Tod in seinen Facetten ist ihr regelmäßiger Begleiter. „Das ist meinen beiden Berufen geschuldet. Daher macht er mir auch keine Angst.“ Aber vielleicht ist es auch das Wissen darum, dass da mehr ist nach dem Leben: „Mein Glaube gibt mir Halt“, sagt sie.
Zur Ruhe kommen, mit einer Tasse Kaffee und einer Zeitung, das schätzt die 58-jährige. Schweren Herzens wird sie nun ihren grünen Beruf an den Nagel hängen. Die Knie machen nicht mehr mit – und der Rücken. Vielleicht sei so ein Schlusspunkt auch ganz gut, meint sie selbstkritisch. „Ich neige dazu, mich vom Projekt zu Projekt zu hangeln. Dann komme ich nicht zum Nachdenken.“
Vielleicht kommt es so, vielleicht auch nicht, denn sicher kommt der nächste Moment, in dem wieder jemand Hilfe braucht – und Monika Vernauer wird sagen „Ja, ich mache das.“