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Zur Bekämpfung der Pandemie wurden und werden Maßnahmen ergriffen, die tief in persönliche, politische und wirtschaftliche Grundrechte eingreifen. Mit dem Moraltheologen Professor Peter Schallenberg aus Paderborn sprach „Kirche-und-Leben.de“ darüber, warum eine Impfpflicht sinnvoll ist, weshalb Betriebe, die unter der Pandemie leiden, zu fördern sind und welche Rolle Medien und Entscheidungsträger in der Corona-Debatte einnehmen sollten.
Herr Schallenberg, die Corona-Pandemie verlangt Solidarität und Verantwortung, heißt es immer wieder. Das Verhältnis von Geimpften und Ungeimpften wird zunehmend belastet. Diskussionen kochen hoch. Was raten Sie, wie der Umgang der Menschen untereinander sein sollte?
Der Umgang der Menschen sollte möglichst solidarisch und rücksichtsvoll sein und bestrebt, die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft besonders zu schützen. Das sind besonders ältere, kranke und pflegebedürftige Menschen. Da muss sich jeder selbst fragen, ob es nach medizinischer allgemeiner Ansicht nicht solidarisch und rücksichtsvoll wäre, sich impfen zu lassen, um die schwächeren Mitmenschen zu schützen. Das gilt in jedem Fall für die Beschäftigten in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen. Für absolut unverantwortlich halte ich es, dort nicht geimpft zu arbeiten.
In welche Rechte darf der Staat eingreifen, wenn er für den Schutz aller Bürgerinnen und Bürger zu sorgen hat?
Der Staat hat in ungewöhnlichen Fällen und Situationen, nach parlamentarischer Debatte und Abstimmung, das Recht, auch und sogar in Grundrechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Fall der Pflicht zur Impfung, für begrenzte Zeit einzugreifen, sofern Grundrechte anderer Bürgerinnen und Bürger gefährdet sind. Das muss gut begründet sein und ist normalerweise zeitlich begrenzt.
Was halten Sie von der allgemeinen Impfpflicht?
Eine allgemeine Impfpflicht, wie wir sie bei den Pocken hatten bis zur Ausrottung und bei den Masern haben, ist auch denkbar nach eingehender medizinischer Expertise und Konsultation sowie parlamentarischer Entscheidung. Im Fall von Corona halte ich eine solche allgemeine Impfpflicht für sinnvoll. Allerdings sind die Durchführung und die Kontrolle komplizierter als bei der Masernschutzimpfung für Kinder.
Wie können Politiker und Entscheidungsträger die richtigen Maßnahmen treffen, wenn sie diese Güterabwägungen vornehmen müssen?
Politiker werden nur dann zu gerechten Güterabwägungen und zu richtigen Maßnahmen kommen, wenn eine allgemeine, breite und öffentliche Debatte stattgefunden hat, die immer mündet in eine parlamentarische Debatte im Bundestag. Zwar geht gemäß unserem Grundgesetz formal nicht alle Macht vom Volk aus, sondern von den unveräußerlichen Grundrechten der Grundrechtsartikel unseres Grundgesetzes, aber die Güterabwägung verschiedener Grundrechte bedarf immer der parlamentarischen Debatte im Haus der Repräsentanten des Volkes: Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat auf parlamentarischer Grundlage.
Welche Rechte des Menschen sind in der Corona-Pandemie unantastbar?
Das Grundrecht auf Leben jeder gezeugten Person darf nach Auffassung der katholischen Soziallehre und auch des allgemein geltenden Naturrechts nie angetastet oder eingeschränkt werden, sonst gleicht der Staat, nach dem berühmten Satz des heiligen Augustinus, einer wohl organisierten Räuberbande. Leider ist das bei uns, wie in den meisten Staaten der Welt, im Blick auf die Abtreibung sogar der Fall. Katholiken nehmen das hin, werden sich aber nie damit abfinden. Nach dem Lebensrecht kommen die nächsten Grundrechte: Recht auf Wahrheit, Recht auf Eigentum – eingeschränkt durch das Recht des Staates zur Steuererhebung – und das Recht auf Ehe und Familie – eingeschränkt durch die objektiv geltenden Kinderrechte.
Welche Grundrechte dürften aus Sicht der katholischen Sozialethik eingeschränkt werden?
Einschränkungen sind im Feld der Grundrechte, außer beim Lebensrecht, denkbar und möglich, sind aber immer begründungspflichtig und jederzeit revidierbar. Dies gilt im Übrigen auch für das Recht auf freie Religionsausübung oder im Blick auf vereinzelte religiöse Vorschriften, wie etwa die Kindesbeschneidung: Der Staat verbietet dies, außer im Fall medizinischer Indikation, mit Blick auf das höhere Rechtsgut einer körperlichen Unversehrtheit des Kindes.
Was ist jetzt in der Corona-Pandemie zu beachten?
In der Corona-Pandemie ist besonders das Recht auf ungehinderten Zugang zu gleicher und optimaler Gesundheitsversorgung zu schützen, also eine konsequente Folge des unbedingten Lebensschutzes. Natürlich schützt der soziale Rechtsstaat immer und zuerst das pure Überleben gleichsam als Lebensquantität, erst dann und in der Folge verschiedene Lebensqualitäten. Sollte dies Überleben durch die Notwendigkeit der „Triage“ und der Selektion im Krankenhaus aufgrund einer dauerhaften Überlastung beeinträchtigt werden, ist eine allgemeine Impfpflicht mit der Folge einer spürbaren Entlastung der Intensivstationen zu erwägen und legitim.
Welche Entschädigungen sollte der Staat vornehmen, wenn Firmen, Betriebe, Unternehmen, Selbstständige durch staatliche Maßnahmen ins finanzielle Desaster geraten?
Der Staat sollte bei entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, wie in Deutschland, großzügig Entschädigungen vornehmen bei wirtschaftlichen Ausfällen durch Corona. Besser noch gelingt das freilich durch die finanzielle Förderung von Kurzarbeit. Einmal zerstörte wirtschaftliche Infrastruktur regeneriert sich nur sehr langsam. Daher ist der Staat gut beraten, in Zeiten der Krise einer Pandemie sich zu verschulden, um Überbrückung zu schaffen zur Zeit der wirtschaftlichen Erholung, um dann die Schulden zurückzahlen zu können.
Welche Rolle fällt den Medien zu, wenn in komplexen Zusammenhängen einfache Antworten zu geben sind?
Die Rolle der Medien ist doppelt: Information und Kontrolle. Information in möglichst breiter Form über unterschiedliche Aspekte der öffentlichen Probleme. Kontrolle zu gewährleisten in öffentlichen Entscheidungen mithilfe von Transparenz und investigativer Berichterstattung. Insofern sind die Medien heutzutage ganz gewiss die notwendige vierte Gewalt im Staat.
Welchen Debatten-Verlauf würden Sie sich wünschen?
Der Debatten-Verlauf sollte so unaufgeregt wie möglich und so engagiert wie nötig sein: ohne Aggressivität oder Polemik, aber mit zuspitzender und scharfer Fragestellung. Alle Erkenntnisse und Informationen müssen auf den Tisch gebracht werden und ausführlich debattiert werden, immer mit dem Ziel einer am Ende stehenden parlamentarischen Abstimmung und Entscheidung, der sich dann alle zu fügen haben, unbeschadet freilich weiterer Diskussionen und des Austausches von Argumenten. Demokratie braucht immer drei Bereitschaften: zum Zuhören, zum Lernen, zum Kompromiss. Die reine Lehre ist nicht von dieser Welt!
Tagung im Franz-Hitze-Haus abgesagt
Die geplante Fachtagung im Franz-Hitze-Haus in Münster zu sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie am 2. und 3. Dezember, bei der auch Peter Schallenberg sprechen sollte, fällt aus. Laut Veranstalter ist eine Präsenz-Veranstaltung derzeit nicht angebracht. Die Akademie werde sich weiter diesem Thema widmen und einen Ersatztermin anbieten.