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Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Geistliche im Erzbistum München-Freising macht sprachlos. Wieder einmal. Und wieder einmal äußert ein Bischof seine Erschütterung. Zu Recht. Kaum weniger erschütternd ist das Verhalten der Verantwortlichen - nicht zuletzt von Benedikt XVI. Ein Kommentar von Chefredakteur Markus Nolte.
Das Grauen liegt hinter den Zahlen. Die brutale Gewalt, die Kinder durch Priester erleiden mussten. Die schwarze Einsamkeit dieser kleinen Menschen, die gegen den unbefleckten Glanz von „Hochwürden“ keine Chance auf Glaubwürdigkeit hatten. Die Verletzungen, die ein Leben lang nicht heilen. Das darf niemals vergessen werden.
Und das muss unbedingt gesagt sein, weil sich einmal mehr Verantwortliche erschüttert zeigen. Ist Erschütterung nicht aber eine Reaktion auf eine in ihren Ausmaßen ganz und gar unerwartbare Entwicklung? Kann es konstante Erschütterung geben? Der Sumpf, der Nebel, die Abgründe, die klerikale Arroganz sind doch längst bekannt, geradezu bitter vertraut (wie fürchterlich!). Niemand wird ernsthaft geglaubt haben, das Gutachten in München könnte irgendwie weniger bodenlos ausfallen.
„Mitarbeiter der Wahrheit“
Die Erschütterungen von München sind ganz andere. Erschütternd ist, dass laut Gutachten offenbar ein emeritierter Papst, der sich laut Wahlspruch als „Mitarbeiter der Wahrheit“ versteht, gelogen hat. Er will – sein Gedächtnis funktioniere detailgetreu prächtig – an einer Sitzung als Münchner Erzbischof nicht teilgenommen haben, in der über die Aufnahme eines verurteilten Missbrauchspriesters in sein Erzbistum entschieden wurde.
Hat er doch, sagen die Juristen und zeigen das Protokoll der Sitzung. Das lag auch Benedikt XVI. vor, als er seine 82-seitige Stellungnahme verfasste – und in der er abstritt, dabei gewesen zu sein.
Dieses Abstreiten von offenbar Belegtem – das erschüttert. Die fehlende Bereitschaft, seiner Verantwortung als Erzbischof wenigstens nachträglich gerecht zu werden – das erschüttert.
Missbrauch ist noch immer keine Chefsache
Auch dies: Dass Kardinal Reinhard Marx kundtut, man werde jetzt noch mehr analysieren und beraten, und dass man mit dem Synodalen Weg ja auf einem guten Weg sei. Aber dass er keine Silbe zu den Vorwürfen gegen ihn und seine Vorgänger als Erzbischof verliert – das erschüttert.
Überhaupt: Missbrauch ist nach wie vor keine „Chefsache“. Das wirft die Münchner Studie Kardinal Marx vor. Auch das erschüttert.
Offenbar soll es auch keine Chefsache sein. Wie sonst erklärt sich, dass Papst Franziskus trotz erwiesener Fehler alle fraglichen Bischöfe in Hamburg, Köln und München trotz Rücktrittsgesuchen im Amt lässt? Das erschüttert.
Keine Konsequenzen, keine Reformen
Und so wird weiter Bistum für Bistum Gutachten präsentieren – was zweifellos wichtig und richtig ist. Und es wird weiter Bischof für Bischof seine Erschütterung kundtun – was sicherlich „immer neu“ auch redlich sein wird.
Aber dass tatsächlich aus Schuldeingeständnis und der formellen Übernahme von Verantwortung auch persönliche Konsequenzen und Reformen folgen – darauf wird man wohl vergeblich warten.
Er habe in letzter Zeit durch die Auseinandersetzung mit dem Missbrauch einen anderen Blick auf die Kirche bekommen, sagte Marx nach der Vorstellung des Gutachtens auch noch. Sein Rücktrittsangebot vor einem Jahr, seine großen Spenden für Betroffene, überhaupt eine gewisse neue Empfindsamkeit sprechen dafür.
Aber wenn es ihm und anderen Rücktrittsanbietern wirklich ernst wäre und vor allem, wenn es Franziskus ernst wäre damit, dann bräuchte es – angenommene Rücktritte. Aus diesem Beben könnte womöglich und ganz vorsichtig eine wirklich glaubwürdige Kirche werden.