Matthias Sellmann über zivilen Ungehorsam unter Lebensgefahr

Mut, der Mut machen kann

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Schlechte Nachrichten gibt es wahrlich genug. Doch manchmal erleben wir Momente, die beeindrucken, zunächst sprachlos machen vor Staunen - aber dann neue Kraft geben. Matthias Sellmann schaut auf zivilen Ungehorsam in Russland und im Iran.

Viele werden es noch in Erinnerung haben. Im März 2022, kurz nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine versammeln sich Millionen von Zuschauer:innen wie jeden Abend zu den russischen Abendnachrichten. Die Sprecherin trägt die aktuellen Nachrichten vor. Alles ist wie immer – außer, dass man eben jetzt im Krieg ist.

Da passiert es: Eine Frau läuft hinter die Sprecherin und hält ein großes, sehr gut lesbares Plakat in die Kamera. Da alles live passiert, kann die Zensur gar nicht so schnell reagieren. Viele russische Familien lesen gemeinsam die Worte: „No war“. „Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“ war auf Russisch zu lesen. Die junge Frau ruft noch: „Stoppt den Krieg“, dann bricht die Übertragung ab.

Ein Moment Wahrheit

Die Rede ist von Marina Owsjannikowa. Sie war russische Journalistin und konnte sich daher Zugang zu der TV-Sendung verschaffen. Mit ihrer Aktion störte sie die große Propagandamaschine des Kreml, die es darauf anlegt, den Angriffskrieg auf die Ukraine als „Spezialoperation“ zu verharmlosen. Für einen Moment war die Wahrheit im Raum.

Man muss kein Russland-Kenner sein, um sich die brutalen Konsequenzen vorzustellen, die der jungen Journalistin nun drohen würden. Mir jedenfalls drängten sich sofort Begriffe wie „Arbeitslager“ oder „jahrzehntelanges Wegsperren“ in den Sinn. Auf jeden Fall war ich mir sicher, der mutigen Aktion eines Menschen beigewohnt zu haben, von dem ich nie mehr etwas hören würde.

Sie hat alles investiert

Der Autor
Matthias Sellmann, Jahrgang 1966, ist Theologe und Sozialwissenschaftler, Professor für Pastoral­theologie an der Universität Bochum, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und des Synodalen Weges. Er ist zudem Berater der Deutschen Bischofskonferenz und Direktor des Zentrums für angewandte Pastoralforschung in Bochum.

Tatsächlich konnte Frau Owsjannikowa fliehen und arbeitet heute in Deutschland. Aber dass es gut ausgeht, genau das konnte sie nicht wissen. Und das ist hier mein Punkt. Was mich über die Maßen beeindruckt, ist der zivile Ungehorsam von Frau Owsjannikowa. Sie musste das Schlimmste für sich befürchten. Sie hat ihr ganzes Leben in eine einzige symbolische Aktion investiert. Und das, um gegen großes Unrecht anzugehen.

Dieser Mut kennzeichnet im Moment auch die Iranerinnen bei ihren Demonstrationen. Menschen haben Angst – wie auch nicht? –, doch sie erheben sich gegen Gewalt. Woher kommt solcher Mut?

So wie man bei Katastrophen am Leben irre werden kann, so kann man bei solchem Mut am Leben wieder andocken.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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