Trauer und Hilfe nach dem Germanwings-Unglück

Nach Flugzeugabsturz: „Eine Glocke aus Ohnmacht über Haltern“

Nach dem Absturz des Germanwings-Airbus steht Haltern still. Eine Reportage aus einer Stadt unter Schock. Auch Münsters Weihbischof Dieter Geerlings findet kaum Worte.

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Es ist Zeit für Zeichen, für Gesten, für Begegnungen. Und die bitteren Tränen gehören dazu. Am Eingang der St.-Sixtus-Kirche in Haltern am See nimmt Kaplan Thorsten Brüggemann ein junges Mädchen in den Arm, spricht ein paar Worte mit ihr und wünscht ihr Kraft, bevor sie wieder hinausgeht. Hinaus in eine Stadt, die „sich unter einer Glocke befindet“, sagt er. „Aus Ohnmacht, Trauer und Fassungslosigkeit.“

Seit gestern Mittag ist das so. Seitdem der Airbus 320 der Fluggesellschaft Germanwings in den französischen Alpen abstürzte. 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des Haltener Joseph-König-Gymnasiums kamen dabei ums Leben.

 

Außergewöhnliches Zeichen

 

Mitten in der Kirche am zentralen Marktplatz steht ein außergewöhnliches Zeichen. Das Wallfahrtskreuz aus dem 14. Jahrhundert wird eigentlich erst am Karfreitag an diesen Ort gestellt. Als die Nachricht vom Unglück die Pfarrgemeinde erreichte, entschied sich Dechant Martin Ahls aber, es sofort vor den Altar zu rücken.

„Er wollte einen Raum schaffen, in dem die Trauer der Menschen einen besonderen Platz hat“, erklärt Brüggemann. Vor dem großen Holzkreuz brennen seitdem die Kerzen. Nur für einige Stunden in der Nacht war die Kirche geschlossen. Seit acht Uhr sind die Bänke wieder besetzt.

 

Kein Trost

 

Brüggemann war einer der ersten Seelsorger, die am gestrigen Mittag in das Gymnasium eilten. „Als ich den Anruf aus unserem Pfarrbüro bekam, hatte ich noch keine Nachrichten gehört.“ Über die Fakten war er schnell informiert. Die Situation in einem Klassenzimmer, in dem sich Angehörige und Lehrer einfanden, war dagegen nicht fassbar. „Trösten konnten wir nicht, nur da sein, sie nicht allein lassen.“ Es kamen weitere Seelsorger dazu. Am Ende fanden sich etwa 20 ein, evangelische und katholische. „Wir fuhren auch zu den Familien und fragten, was wir für sie tun könnten.“

Die St.-Sixtus-Kirche war mittlerweile jener wichtige, geschützte Raum geworden, den man den Menschen in Haltern bieten wollte. Als um 18 Uhr die Totenglocke für eine Stunde geläutet wurden, waren die Bänke voll. Um 19 Uhr betete man gemeinsam, sprach Fürbitten – das Kreuz in der Mitte. „Auch ich brauchte in diesem Moment Kraft“, sagt Brüggemann. Er kennt einige Opfer. Sie waren Firmlinge oder Ministranten. „Er war im vergangenen Jahr mit uns auf der Messdiener-Wallfahrt in Rom“, erinnert er sich an einen von ihnen. „Wir hatten dort alle so viel Spaß.“

 

Fassungslosigkeit auch bei Weihbischof Geerlings

 

Auch Weihbischof Dieter Geerlings war am Abend in der Kirche und las die Eintragungen im Fürbittbuch. „Als ich von den Gefühlen der Klassenkameraden hörte, kamen mir die Tränen“, sagt er. Seine eigenen Empfindungen schrieb er auf der Rückfahrt nieder. Es ist seine persönliche Fassungslosigkeit, seine Klage, seine Sinnsuche, die in diesem Gebet zum Ausdruck kommen. Und seine Hoffnung: „Gott, wir haben Lichter entzündet – lass sie keine Lichter der Illusion sein, die einfach wieder erlöschen wie das Leben – lass sie Lichter deines Lebens werden durch unserer Tränen hindurch für jeden einzelnen Toten.“

Dieses Gebet sprach er, als er heute bei der Trauerfeier in der Aula des Gymnasiums vor die Schüler, Eltern und Lehrer trat. Die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann war gekommen, hatte ihre tiefe Erschütterung bekundet und jede Hilfe bei der Aufarbeitung zugesagt.

 

„Tränen schwer zu ertragen“

 

Geerlings überbringt auch die Beleidsbekundung von Bischof Felix Genn. „Die vielen Tränen der Menschen in der Aula waren schwer zu ertragen“, sagt Geerlings im Anschluss. „Das geht mir unter die Haut.“ Auch ihn als erfahrenen Seelsorger nimmt das mit. „Vielleicht kann ich das ein bisschen besser kanalisieren – aber das ist nur äußerlich.“

Auf dem Weg über den Schulhof erlebt der Weihbischof diese Schwere noch einmal. Auf den Stufen vor dem Haupteingang des Gymnasiums haben die Schüler Blumen abgelegt und Kerzen entzündet. Er hält dort kurz inne. Immer wieder kommen die Klassengemeinschaften hierher, um Zeichen zu setzen. Auch hier ist ein wichtiger Ort für Tränen. Sie halten sich an den Händen und im Arm. Sie lesen die Abschiedsgrüße und Wünsche auf den kleinen Zetteln zwischen den Kerzen. Sie stellen sich im Kreis auf und sprechen ein Gebet.

 

Gott verbunden

 

In der St.-Sixtus-Kirche herrscht derweil die Stille, die viele Menschen jetzt suchen. Das Kerzenmeer um das Kreuz ist weiter angewachsen. „Es kommen nicht nur direkt Betroffene, es kommen alle Haltener“, sagt Kaplan Brüggemann. Weil die Kirche ein Ort sei, mit dem man eine Hoffnung verbinde, egal wie tief man im Glauben verankert sei. „Hier fühlt man sich Gott besonders verbunden, auch wenn er gerade jetzt nicht da zu sein scheint.“

Die Totenglocken läuten an diesem Mittag noch einmal lange. Nicht allein in St. Sixtus, auch in den Kirchen der umliegenden Orte. Viele der Schüler kommen von außerhalb. Auch dort soll dieses wichtige Zeichen gehört werden. „Nicht damit sich die Glocke der Ohmnacht möglichst schnell hebt“, sagt Brüggemann. „Sie gehört genauso zur Trauerbewältigung wie der anschließende, schwere Weg zurück zur Normalität.“

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