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Ein Jahr nach den Terrorattacken der Hamas gegen Israel droht die Situation zu eskalieren. Ludger Bornemann hat 20 Jahre in Israel gelebt und ist bis heute eng mit dem Heiligen Land verbunden. Welche Perspektiven sieht er?
Pfarrer Bornemann, ein Jahr nach den Terrorattacken der Hamas auf Israel: Wie tief sitzen die Wunden bei Menschen in Israel, die Sie kennen? Wie nehmen Sie sie wahr?
Als ich im Juni zuletzt in Israel war, habe ich bei vielen Menschen völlige Erschöpfung erlebt, weil sie ständig in der Erwartung eines neuen Alarms leben. Alle sind zutiefst erschrocken darüber, wie viel nicht mehr ist wie vor dem 7. Oktober 2023. Sowohl jüdische als auch arabische Menschen erzählen uns das. Viele sind vorsichtig mit dem, was sie äußern. Die arabischen Mitarbeiter im Pilgerhaus in Tabgha sagen mir: Wenn wir nach Tiberias gehen, wo vor allem Hebräisch sprechende Juden leben, sprechen wir nicht mehr Arabisch. Zugleich erzählt mir unser arabischer Koch, dass seine Cousins inzwischen auch bei der israelischen Armee sind – und damit auch in Gaza. Die alten Traumata sind voll wieder da, auf beiden Seiten: bei den Juden die Shoah – „man will uns wieder vernichten“; bei den Palästinensern die Angst vor Vertreibung – „wir sind die, die weg sollen“.
Wie hat sich seitdem Ihr Blick auf das Heilige Land verändert – nach 20 Jahren im Heiligen Land und acht Jahren wieder in Deutschland?
Zur Person
Ludger Bornemann (*1956) ist Priester des Bistums Münster. Von 1996 bis 2016 lebte er als Pilgerseelsorger und Geistlicher Leiter im Pilgerhaus Tabgha am See Gennezareth in Israel. Seitdem ist er Geistlicher Leiter des Deutschen Vereins vom Heiligen Land, der den interreligiösen Dialog, Verständigung, Bildung und Frieden im Heiligen Land fördert. Am 3. November 2024 wird Bornemann als Domkapitular am Paulusdom in Münster eingeführt. | mn
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es eine derart lange Zeit des Krieges gab. Das Land hatte seine Gewohnheiten entwickelt, mit schlimmen Zeiten zu leben. In der Zeit der Intifada konnte es passieren, dass in Westjerusalem ein Bus explodiert war und man tags darauf nichts mehr davon sah. Die Menschen sind darin geübt, solche Erlebnisse schnell zu verdrängen und zur Normalität überzugehen. Doch davon kann zurzeit überhaupt nicht die Rede sein.
Darüber hinaus verändert sich das Land wirtschaftlich massiv. Die Touristen bleiben aus. Viele Arbeiter sind nicht mehr da, weil sie in die Armee eingezogen wurden. Viele Menschen aus der Westbank, die sonst billige Arbeitskräfte waren, kommen nicht mehr. Sie sitzen Däumchen drehend in ihren Heimatdörfern, solidarisieren sich mit der Hamas und sind potenziell neue Extremisten.
Seitdem wächst Antisemitismus weltweit, bei Pro-Palästina-Demonstrationen, auch in Deutschland, nicht zuletzt bei muslimischen Menschen in unserem Land. Wie damit umgehen? Was passiert da?
Das Erstarken des weltweiten Antisemitismus hat viel damit zu tun, dass aus allen möglichen Kanälen etwas zusammengebastelt wird, was mit real existierenden Menschen kaum etwas zu tun hat. Ich glaube, dass die meisten Pro-Palästina-Demonstranten mit keinem einzigen Juden gesprochen haben. Man muss – was zugegebenermaßen schwierig ist – unterschieden zwischen einer legitimen Kritik am Staat Israel und dessen Politik und dem, was jüdisch ist.
Zugleich wächst die internationale Kritik an Israel. Wie kann man Israel kritisieren, ohne antisemitisch zu sein?
In der israelischen Regierung sitzen zurzeit Leute, die zuvor vom Staat Israel als eindeutig extremistisch bezeichnet wurden und die vor Gericht standen, weil sie sich gegen die demokratischen Spielregeln Israels verhalten haben. Diese Menschen machen ordentlich Druck auf den Regierungschef. Wenn ich diese Leute – mit Stimmen aus Israel – kritisiere, richtet sich das natürlich nicht gegen die Juden. Wenn ich hingegen sagte: So sind die Juden, so kennen wir sie – dann ist das antisemitisch, weil es ein Narrativ bedient, das mit den Menschen in Israel nichts zu tun hat.
Israel will die Hamas in Gaza auslöschen, ähnlich gerade in den letzten Tagen die Hisbollah im Libanon, die nun massiv zurückschießt – und alle treffen mit ihren Militärschlägen viele Zivilisten, nicht zuletzt, weil mutmaßlich beide Terrororganisationen humanitäre Orte als Stützpunkte nutzen. Die Leidtragenden in beiden Fällen sind Menschen wie du und ich. Wie damit umgehen?