Themenabend zur Fastenzeit im St. Paulus-Dom von Münster

Neutestamentler Söding: Kirche, führe uns nicht in Versuchung

Was meint Versuchung? Geht es um einen Gott, der Menschen scheitern sehen will? Thomas Söding, Professor für Neutestamentliche Exegese Ruhr-Universität Bochum, sprach beim geistlichen Themenabend im Münsteraner Paulusdom über die sechste Vaterunser-Bitte.

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Der Theologe Thomas Söding hat sich dafür ausgesprochen, an der Formulierung der Vaterunser-Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ festzuhalten. „Für sich selbst beten viele anders, etwa ,Vater, führe uns aus der Versuchung´ oder ,Vater, bewahre uns in der Versuchung´“, räumte der Lehrstuhlinhaber für Neues Testament an der Ruhruniversität Bochum ein. „Das sind gute und richtige Gebete, aber das Vaterunser ist tiefer, härter, befreiender. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Jesus wirklich so gebetet hat.“

In Versuchung könnten die Menschen nur geführt werden, weil sie frei seien. Sie komme von ihnen selbst aus. „Die Versuchung ist der Abgrund der Freiheit“, unterstrich Söding bei dem geistlichen Themenabend am Mittwoch zur Fastenzeit im St. Paulus-Dom, Münster. Die Themenabende stehen in diesem Jahr unter dem Motto „Dein Reich komme - Das Vaterunser als Quelle der Erneuerung.“

 

„Kirche, führe uns nicht in Versuchung“

 

Der Theologe bekannte, die betreffende Bitte sei ein Stein des Anstoßes. Sie sei aber richtig übersetzt, und man könne so beten, weil man annehmen dürfe, dass Gott von dem Bösen, das ganz tief mit dem Menschen selbst zu tun habe, erlösen könne, und nicht etwa, weil man Angst hätte, er sei ein Monster, das den Menschen scheitern sehen wolle. „Es geht nicht um die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt, und auch nicht den kleinen Kick, der uns zu lässlichen Sünden führt, wie sie im Beichtspiegel aufgelistet sind“, erläuterte Söding. „Es geht vielmehr um eine existentielle Not, um Sein oder Nicht-Sein, um den Sinn meines Lebens und des Lebens der anderen, den ich zerstören würde, wenn ich der Versuchung nachgebe.“

Professor Dr. Thomas Söding
Professor Dr. Thomas Söding. | Foto: pd

Die Bitte könne auch lauten: „Kirche, führe uns nicht in Versuchung“, denn die Kirche dürfe nicht das Beste, nämlich Gott, zum Vorwand nehmen, um  Menschen von sich abhängig zu machen und das Heiligste wegzuwerfen. „Wir dürfen nicht unseren eigenen Missbrauch, unsere eigene Schuld Gott in die Schuhe schieben“, mahnte Söding. Jesus lege den Finger darauf, dass die Versuchung auch in der Gier, vor Gott und den Menschen groß dazustehen, also in Heuchelei und Scheinheiligkeit bestehen könne.

 

Keine Spiritualität mit Kuschel-Gott

 

 „Es gibt auch in der Spiritualität keinen Kuschel-Gott“, betonte Söding. Besonders die beiden Versuchungsgeschichten um Abraham, der auf Geheiß Gottes seinen eigenen Sohn opfern solle, und den frommen Hiob, der alles verliere, seien abgründige, paradoxe Erzählungen, mit denen Theologie, Literatur und die verschiedenen Formen der Kunst nicht fertig würden. Nicht zuletzt werde auch Jesus selbst in die Versuchung geführt, sich den Hunger und damit die Mühen des Mensch-Seins zu ersparen.

 „Die Versuchung geschieht, um zu sehen, wie tief Gott sich in unser menschliches Leben hineinbegibt, wie sehr er sich dem Negativen und Bösen aussetzt“, machte der Neutestamentler klar. „Sonst würde nicht deutlich, wie eng Himmel und Erde miteinander verbunden sind.“ Jesus habe als Mensch, der Versuchung gekannt habe, dieser Versuchung widerstanden. „Die Bitte ,Führe uns nicht in Versuchung´ gehört in die Bibel, ins Leben der Kirche, in unser Leben und ins Vaterunser genauso wie die Bitte ums tägliche Brot“, schloss Söding. „In dem Moment, in dem ich sie bete, habe ich die Versuchung schon bestanden, wird die Bitte bereits erfüllt.“ 

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