Gast-Kommentar von Schwester Judith Kohorst, Pastoralreferentin

Nicht jede Familie ist ein „Clan“

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Sie gehören zum traurigen Straßenbild in jeder Stadt: Wohnungslose, Bettler, manchmal mit Banden im Hintergrund. Ist es da richtig, ihnen Geld zu geben? Geht doch sowieso für Alkohol drauf! Oder geht an die Clans, die kräftig abkassieren. Was ist dran an diesen Vorurteilen? Schwester Judith Kohorst kommt in ihrem Gast-Kommentar aus eigenen Erfahrungen zu einer klaren Position.

„Haste mal 'nen Euro?“ Die einen greifen bei der Frage in die Tasche, die anderen sind eher genervt: Nicht jeder mag in der Fußgängerzone angebettelt werden. Glaubte man den gängigen Gerüchten, dann handelt es sich bei einem Großteil der bettelnden Menschen um Mitglieder von kriminellen Bettelbanden, die gezielt in den europäischen Norden geschleust werden.

Die Autorin
Schwester Judith Kohorst, Jahrgang 1964, ist Franziskanerin und Pastoralreferentin. Seit zehn Jahren ist sie im Gasthaus und in der Gastkirche in Recklinghausen tätig.

In Recklinghausen kennen wir (das Team der Gastkirche) die meisten Bettler. Keiner ist in eine „Bande“ eingebunden: Da ist etwa Herr R., der mit dem erbettelten Geld seine Familie in Rumänien unterstützt. Er hat keine Chance, in seiner Heimat Arbeit zu finden und bekommt durch Betteln in Deutschland täglich 20 bis 30 Euro. Da ist Herr A., der Arbeit gesucht, aber nicht gefunden hat. Er schläft mit anderen jungen Männern in einem abbruchreifen Gebäude. In der städtischen Notunterkunft dürfen sie als Osteuropäer nur eine Nacht übernachten.

 

Die ärmsten der Armen in Deutschland

 

Roma und Osteuropäer*innen sind meiner Meinung nach die ärmsten Armen in Deutschland. Sie sind EU-Bürger, haben aber keinen Anspruch auf irgendwelche Leistungen. Hier zeigt sich die Doppelmoral der deutschen Wirtschaft: Konzerne nutzen Länder wie zum Beispiel Rumänien als billige Produktionsstandorte. Einzelne Wirtschaftszweige in Deutschland (beispielsweise die Fleischindustrie) sind auf die Arbeitsleistung der osteuropäischen Männer und Frauen angewiesen. Um ihre Probleme kümmert sich aber niemand.

Es ist verständlich, dass Menschen aus Osteuropa die Chancen der EU-Öffnung für sich und ihre Kinder nutzen wollen, und es ist zwangsläufig so, dass Menschen, die überall Ablehnung und Diskriminierung erfahren, sich in Familie und Verwandtschaft umso mehr beistehen. Es hat für mich einen Anklang von Rassismus, wenn osteuropäische Familienverbände sehr schnell mit dem Beinamen „Clan“ versehen werden und von Bettelbanden gesprochen wird.

 

Und wo legen Sie Ihr Geld an?

 

Selbstverständlich ist es legitim, einem Bettler, einer Bettlerin kein Geld zu geben. Viele haben Angst, dass mit ihrem Geld Alkohol oder Drogen finanziert werden oder die Münzen im „Mafia-Milieu“ landen. Ich frage mich allerdings, ob diejenigen, die sich hier über einen geschenkten Euro so viele Gedanken machen, genauso sorgfältig sind mit jedem Euro, den sie einer Bank anvertrauen. Haben sie geprüft, ob das entsprechende Geldinstitut mit ihrem Geld nicht Waffengeschäfte tätigt oder Atomkraftwerke finanziert? Das Risiko, mit einem Euro in die Hand des Bettlers ethisch fragwürdige Projekte zu finanzieren, scheint mir damit verglichen eher gering.

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