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„Was war das Schlimmste im Konzentrationslager Westerbork?“, wollen die Schülerinnen der Xantener Marienschule von Eva Weyl wissen. Die 1935 im niederländischen Arnheim geborene Jüdin entgegnet spontan: „Das war der Anfang! Weg von unserem wunderschönen Zuhause und die Angst vor der Zukunft.“
In der Aula der katholischen Mädchenrealschule verfolgen knapp 100 Schülerinnen den Vortrag der Zeitzeugin über ihr Leben in Westerbork. Sie hat Bilder mitgebracht, die sie per Beamer auf eine Leinwand wirft. Die Erzählung von Eva Weyl ist authentisch und packend. Es sind keine Klischees. Sie sieht auf das Herz der Menschen, von denen sie erzählt. Das berührt die Mädchen, die für Augenzeugenberichte in besonderer Weise sensibilisiert sind. Vor wenigen Monaten haben sie das Vernichtungslager Auschwitz besichtigt.
„Nie wieder Auschwitz!“
Eva Weyl hält oft Vorträge vor Schülergruppen. Für sie ist das ein innerer Auftrag. Sie will die kommenden Generationen an die furchtbaren nationalsozialistischen Verbrechen erinnern und davor warnen: „Nie wieder Auschwitz!“, ruft sie den Mädchen entgegen.
Nein, die heutige Jugend trage keine Schuld für die deutsche Vergangenheit, aber sie sei verantwortlich für die Zukunft in Deutschland, in den Vereinigten Staaten, den Niederlanden und Südamerika. „Ihr müsst über die Verfolgung und systematische Ausrottung von Menschen reden, denn die Zeitzeugen sterben aus“, sagt sie.
Weyl: „Geschichte wiederholt sich“
„Meine Geschichte hatte ein Happy End“, ruft sie den aufmerksam zuhörenden Schülerinnen zu. „Ich habe überlebt, meine Familie hat überlebt.“ Die Familie ist 1934 nach Arnheim umgezogen, nachdem der Boykott jüdische Geschäftsleute in Deutschland immer mehr unter Druck setzte. „Noch hatten wir keine industrielle Tötungsmaschinerie, die Juden, Roma, Sinti und Homosexuelle vernichtete“, sagt sie. „Die kam erst 1942 nach der Wannsee-Konferenz“, erläutert Weyl.
Doch die Sicherheit in den Niederlanden war trügerisch. 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht das Nachbarland. Die holländischen Juden wurden in dem ehemaligen Flüchtlingslager zusammengepfercht. „Flüchtlingslager!“, ruft sie. „Geschichte wiederholt sich. Auch damals wurden die Grenzen für die Juden dicht gemacht und die Einreise nur gegen Geld ermöglicht“, verweist sie auf die Gegenwart.
„Die Vorhölle zu Auschwitz“
Auch Eva Weyl musste mit ihren Eltern ins Lager. Der Alltag war für die kleine Eva grauenhaft: eisige Baracken ohne Tische oder einen Platz, den Koffer unterzubringen. Es wurde geschrien, gezankt und gestohlen. „Aber ich hatte Glück: meine Mutter hat mich beschützt“, sagt sie. Westerbork war ein Ausnahmelager, kein Vernichtungslager; es sei „die Vorhölle zu Auschwitz“ gewesen.
Damit es in dem Lager nicht zu Tumulten kam, sorgte Lagerkommandant Albert Konrad Gemmeker für ausreichendes Essen, eine menschliche Behandlung, eine große Krankenstation und entsprechende Arbeitsmöglichkeiten. Dass wöchentlich mehr als 1.000 Insassen mit dem Zug nach Auschwitz oder Sobibor transportiert wurden, führte nicht zur Panik, weil nur wenige ahnten, was sie dort erwartete. „Alles war Täuschung“, sagt Eva Weyl. „Die medizinische Versorgung und die kulturellen Veranstaltungen. Dass plötzlich immer wieder Freunde fehlten, hat nur wenige verunsichert.“
Ob sie lieber Christin gewesen wäre, wird sie am Ende ihres Vortrags gefragt. „Ja, wenn es für mich und meine Familie leichter gewesen wäre“, antwortet sie. Doch sie fügt hinzu: „Ich bin stolz Jüdin zu sein, zu einem Volk zu gehören, dass seit 5776 Jahren besteht, auch wenn es oft verfolgt wurde.“