Interview mit dem Essener Bischof zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Overbeck zur Suizidbeihilfe: Eine gefährliche Entwicklung

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid zeigt für den Essener Bischof Franz-Josef Overbeck eine massive Grundsatzänderung. Im Interview sagt er, warum er diese Entwicklung für gefährlich hält.

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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid zeigt für den Essener Bischof Franz-Josef Overbeck eine massive Grundsatzänderung. Im Interview sagt er, warum er diese Entwicklung für gefährlich hält.

 

Herr Bischof Overbeck, Katholische und evangelische Kirche haben gemeinsam das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidbeihilfe vor allem deshalb kritisiert, weil sie befürchten, damit könnten organisierte Angebote der Selbsttötung zur akzeptierten Normalität werden. Warum geht Ihnen die Kritik nicht weit genug?

Die Evangelische und Katholische Kirche haben den politischen Kompromiss, der 2015 im Deutschen Bundestag gefunden wurde, als eine maßvolle Regelung empfunden. Im Zentrum stand der Schutz von Menschen in ihrer letzten Lebensphase und es war klar erkennbar, dass der Gesetzgeber Selbstbestimmung in schwierigen Situationen besonderer menschlicher Verletzbarkeit erhalten wollte.

In der jetzigen Urteilsbegründung verschiebt sich die Blickrichtung grundsätzlich. Das Recht des Einzelnen auf einen assistierten Suizid gilt unabhängig davon, ob jemand unheilbar krank ist. Selbstbestimmung wird in dieser Frage schrankenlos, so dass Selbsttötung als legitimer Ausdruck menschlicher Autonomie erscheint. Und das in jeder Lebenssituation. Ich halte diese Entwicklung für sehr gefährlich. Als Christen müssen wir die Frage stellen, ob eine derart grenzenlose Vorstellung von Freiheit wirklich dem Menschen gerecht wird, der unserer tiefsten Überzeugung nach an Gott gebunden ist, der uns das Leben schenkt und in dessen Hand wir es wieder zurück geben. Freiheit realisiert sich wesentlich im Miteinander, woraus Verantwortung füreinander erwächst.

Gleichwohl ist die deutliche Mehrheit, nämlich 67 Prozent der Befragten, für ärztliche Hilfe beim Suizid von Schwerstkranken. Was sagt das über unsere Gesellschaft?

Bischof Franz-Josef Overbeck Bischof Franz-Josef Overbeck ist seit 2009 Bischof von Essen. Zuvor war er Weihbischof im Bistum Münster. | Foto: Michael Bönte

Die Hoffnung mancher schwerstkranker Menschen, im assistierten Suizid einen Ausweg aus ihrem schmerzvollen Leiden und zu finden, mahnt uns dazu, diesen Beweggründen sehr achtsam zu begegnen. Für viele Menschen ist es zudem eine persönlich unterträgliche Vorstellung, in ihrer Hilfebedürftigkeit von anderen Menschen abhängig zu sein. Autonomie wird häufig mit völliger Unabhängigkeit gleichgesetzt. Und das greift zu kurz. Ich sehe deshalb insbesondere uns Christen in der Verantwortung, für eine Kultur des Miteinanders einzutreten, in der Abhängigkeit von anderen nicht als unerträglich, sondern als möglicher, normaler Teil des menschlichen Zusammenlebens erscheint. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müssen wir deshalb vor allem mit guter palliativer Versorgung und Hospizarbeit begegnen. Unsere Antwort muss sein, dass wir Schwerstkranken und Sterbenden seelsorglich beistehen wollen und bereit dazu sind, ihnen nahestehende Menschen unterstützend zu begleiten.

Das Bundesverfassungsgericht hat auch das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen bestätigt. Sind wir auf dem Weg zu einem laizistischen Staat, der Religion immer weiter aus seiner Werte-Orientierung entfernt?

Wir leben in Zeiten, in denen Säkularität die Gesellschaft und damit die Menschen immer tiefer bestimmt. Damit gerät für nicht wenige Gott aus dem Blick. Wir Christen begründen unsere Normen mit einem bewussten Bezug auf Gott, der der Urheber und der Vollender des Lebens ist. Wir bezeugen unsere Werteorientierung zudem in einer freien Gesellschaft, in der Menschen ihre eigenen Lebenshaltungen und ihren Lebenshalt frei bestimmen können. Darum müssen wir durch Glaubwürdigkeit und Konsequenz in unseren eigenen Lebenshaltungen für unsere christliche Werteorientierung werben.

Was bedeutet es für Sie, für die Kirche, wenn katholische Moralvorstellungen offenbar immer weniger Bedeutung haben?

Seit Jahrzehnten gibt es immer wieder heftige und lebendige Diskussionen bezüglich der katholischen Moralvorstellungen. Normen sind für das menschliche Leben wichtig und hilfreich. Die katholische Tradition hat da Bedeutendes geleistet. Nun muss sie sich bewähren und zeigen, dass sich diese Normen auch in einer freien Welt als das herausstellen, was sie sein sollen, nämlich als Hilfe zu einem guten Leben. Dies geschieht für Menschen, die in aller Freiheit Ja oder Nein zu diesem Angebot sagen können, anders als zu früheren Zeiten, in denen es wesentlich mehr Begrenzungen und durch Volkskirche, Tradition und kulturelle Bestimmungen gab. Daraus folgt für heute - gerade angesichts des Faktums, dass für viele Menschen gewisse Moralvorstellungen eine immense Last bedeutet haben - dass wir unsere Prinzipien demütig und bescheiden vorstellen, leben und vor allem glaubwürdig bezeugen. Hier stehen wir vor vielen wichtigen Entwicklungsschritten innerhalb der Kirche.

Wie muss die Kirche sich konkret verändern, um gesellschaftlich relevant zu bleiben – oder es wieder zu werden? Oder ist der Zug längst abgefahren?

Die Kirche ist überall da relevant, wo sie den Kern der Botschaft Jesu glaubwürdig lebt: Im lebendigen Gebet und Gottesdienst, in einer guten Sozialpastoral, in Formen von Vergemeinschaftung und in einem ansteckenden, intellektuell redlichen Glaubenszeugnis geschieht dies. Überall dort, wo wir mit einem wachen Gegenwartsbezug Kirche leben, mitten in der Welt mit der Botschaft des Evangeliums, bieten wir Menschen in der Gemeinschaft des Glaubens eine Heimat an. Dass darin große Chancen liegen, erlebe ich Tag für Tag.

Jetzt inmitten der Corona-Epidemie wundern sich manche, wie sehr das Virus viele Menschen verunsichert, manchmal zu Hysterie neigen lässt. Inwiefern sind das auch Hinweise für die Hilflosigkeit einer Gesellschaft im Umgang mit existenziellen Erschütterungen wie Krankheit, Sterben und Tod?

Die Corona-Epidemie und ihre Gefahren zeigen, wie endlich wir Menschen sind. Die Globalisierung eröffnet nicht unendliche Freiheit, sondern führt auch in neue Formen von Begrenzung. Die Erschütterung, die wir durch Krankheit, Sterben und Tod erleben, führt uns angesichts der Corona-Epidemie auf mehreren Ebenen unsere Abhängigkeiten vor Augen: wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und auch privat. Niemand wünscht sich solche Erfahrungen. Sie verdeutlichen drastisch, dass wir nicht alles kontrollieren können. Das menschliche Leben ist verletzlich und endlich. Diese Gewissheit zu akzeptieren, eröffnet auch Freiheit.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe
Menschen mit Suizidgedanken können sich an die Telefonseelsorge wenden. Sie ist unter den Rufnummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 sowie 116 123 täglich rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und anonym. Der Anruf findet sich weder auf der Telefonrechnung noch in der Übersicht der Telefonverbindungen wieder. Es gibt auch eine E-Mail-Beratung. Der Mailverkehr läuft über die Internetseite der Telefonseelsorge und ist daher nicht in Ihren digitalen Postfächern zu finden. Hier geht es zur Telefonseelsorge.

 

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