Hingehen oder wegbleiben? Zwei Meinungen

Pro und Contra: Weihnachtsmärkte – genießen oder flüchten?

Jede Stadt hat ihn, und meistens ist es voll auf den Weihnachtsmärkten. Aber was hat das mit Besinnung zu tun? Es gibt Fans der Märkte – und Menschen, die den Trubel bewusst meiden. Zwei Meinungen.

Anzeige

Jede Stadt hat ihn, und meistens ist es voll auf den Weihnachtsmärkten. Aber was hat das mit Besinnung zu tun? Es gibt Fans der Märkte – und Menschen, die den Trubel bewusst meiden. Zwei Meinungen.

 

„Hingehen!“, sagt Marie-Theres Himstedt

 

Marie-Theres HimstedtMarie-Theres Himstedt. | Foto: Michael Bönte

Als Kinder sind wir nie gegangen. Meine Eltern hatten schlichtweg keine Zeit, denn auf dem landwirtschaftlichen Betrieb gab es immer genug zu tun. Und überhaupt, warum teure Plätzchen in der Stadt kaufen, wenn man zuhause doch mit dem umgebauten Fleischwolf prima Spritzgebäck drehen konnte? Unsere Großeltern erlösten meine Geschwister und mich, als sie Heiligabend mit uns in die große Stadt fuhren, vorrangig zum Tannenbäume-Zählen, wie sie sagten. Leider war der Weihnachtsmarkt da schon geschlossen, alle Buden dicht, das Kinderkarussell abgebaut.

Es muss dieses Kindheitstrauma sein, das mich heute an keinem Weihnachtsmarkt mehr vorbei gehen lässt. Naja, seit ich Kinder habe, sind die Besuche weniger geworden, aber früher, gerade zu Schulzeiten zumindest einmal die Woche, zum Leidwesen meiner Lateinlehrerin, und natürlich auch am Wochenende. Mit Freunden bin ich später über die großen Märkte in Köln, Hamburg, Berlin, Stuttgart und Nürnberg geschlendert. Das ist übrigens Durchschnitt. Neun von zehn Bundesbürgern gehen mindestens dreimal pro Saison auf einen Weihnachtsmarkt, stellte eine PR-Agentur 2014 fest.

Ein Weihnachtsmarkt ist einfach herrlich, ein Fest für die Sinne, vor allem für den Gaumen, und ohne schlechtes Gewissen, denn es ist ja eh bald Weihnachten mit seinen kulinarischen Höhepunkten. Überall riecht es nach Backschinken, gebrannten Mandeln, Glühwein und Lebkuchen. Die Häuschen sind dekoriert und geschmückt, es glitzert und leuchtet und funkelt, vor allem das Glück in den Kinderaugen. Ich liebe Weihnachtsmärkte, weil hier viele Menschen gute Laune haben. Man spürt das. Es verbindet uns ein gemeinsames Weihnachtsgefühl, so in die Richtung „Alles wird gut“, trotz Terror, Angst und Schrecken, ob nun weltweit oder im eigenen, kleinen Alltag. Auch wenn dazu der ein oder andere drei Feuerzangenbowlen braucht, bis er sich entspannt.

Die kleineren Märkte auf dem Dorf sind auch wunderbar, eigentlich noch besser. Denn ich kenne die Menschen persönlich, die sich viel Mühe geben mit ihrem Handwerk, das sie verkaufen. Überhaupt wird dem Weihnachtsmarkt ja vorgeworfen, eine reine Kommerzveranstaltung zu sein. Deutschland ist Weihnachtsmarkt-Weltmeister. Rund 270 Millionen Besucher erfreuen sich an Bratwürstchen, Glühwein und Geschenken, etwa 2,7 Milliarden Euro werden umgesetzt.

Klar, die großen Märkte sind eine Geldmaschine in der besinnlichen Adventszeit. Aber warum auch nicht? Sonntags profitieren Studenten davon, die mit ihrem Einsatz in so mancher Bude ihr Budget aufbessern.

Oft beteiligen sich die Kirchen mit einem eigenen Programm. In Nürnberg gestalten Redner der katholischen und evangelischen Kirche jeden Abend das „AdventsWort“, einen adventlichen Impuls in Form von Kurzandachten, Geschichten, Bibelworten und Erzählungen. Und bei uns auf dem Dorf gibt es den „Markt mit Herz ohne Kommerz“. Fast alle Betreiber spenden ihren Erlös für einen guten Zweck. Wenn das mal nicht ein guter Grund für einen Weihnachtsmarktbesuch ist!

 

„Wegbleiben!“, sagt Norbert Ortmanns

 

Norbert OrtmannsNorbert Ortmanns. | Foto: Michael Bönte

Der Advent – die Zeit von Stille, Vorfreude und Erwartung. Eine schöne Idee, die vielen Eltern und Kindern gut tun würde. Gerade an den Wochenenden aber geraten die meisten in den Weihnachtsmarkt-Stress. Schließlich locken immer neue dieser angeblichen besinnlichen Veranstaltungen mit größeren Superlativen: Dem weltweit mächtigsten Tannenbaum, der längsten Glühwein-Theke, dem blinkendsten Adventskranz, der Fressbuden-Meile oder gar den Mallorca-Tanzstuben und Après-Ski-Hütten.

In einer Zeit, in der wir alle über Reizüberflutung stöhnen, finde ich es unproduktiv, unsere Sinne den Qualen eines Weihnachtsmarkt-Besuches auszusetzten. Denn dieser bedeutet Alarm für alle fünf Grundsinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.

Was erleben wir über die Augen? Immer greller werden die Beleuchtungen der Buden, hier flackert ein Stern, dort werden Leuchtstoffröhren eingesetzt. Der Sehnerv schreit bei diesem Anblick nach kurzer Zeit Alarm. Das Gehirn wird ob der visuellen Sinneseindrücke wohl für den ganzen Advent nicht mehr zur Ruhe kommen. Es sei denn, man ersetzt den Weihnachtsmarkt-Besuch durch einen langen Waldspaziergang.

Wie verkraften die Ohren einen Weihnachtsmarkt-Besuch? Statt ruhiger, vielleicht sogar kirchlicher Adventsmusik schallen rhythmische Weihnachtsschlager über die Märkte. Dies zudem in einer Lautstärke, die jedes Gespräch zunichtemacht. Zum Aufeinander-Hören bleibt genauso wenig Schallraum wie zum In-Sich-Hineinhören. Da bleibt nur die Flucht in die Stille der meist nahen Kirche.

Was sagt unsere Nase? Über allem schwebt ein Glühwein-Aroma, gemischt mit dem Bukett von Mandeln und Anisbonbons, geschwängert vom Dunst der Currywürste und Reibekuchen. Die Überfülle der Gerüche schlägt auch unsensiblen Zeitgenossen auf den Magen. Wie schön duften dagegen die Kerzen beim Krippenspiel in der Pfarrgemeinde!

Wie reagieren unsere Geschmacksnerven? Das Milliarden-Geschäft mit Glühwein und Co. setzt immer mehr auf Getränke aus Kanistern und Essbarem aus Fertigteig und Massen-Backwaren. Wie herrlich schmecken dagegen die selbstgebackenen Plätzchen auf dem Basar der Einrichtung für Menschen mit Behinderungen!

Wie wohl fühlen wir uns eigentlich auf dem Weihnachtsmarkt in unserer Haut? Es wird gedrängelt und geschubst, die Menschen rennen hintereinander her, und die Hektik ist größer als auf jedem Hauptbahnhof. Stille und Einkehr sind die Gegensätze jedes Weihnachtsmarktes.

Gegenseitige Zuwendung scheint entbehrlich. Gerade die aber wünschen wir uns doch alle – nicht nur zur Weihnachtszeit. Diese finden wir eher beim gemeinsamen Spiel, dem Eltern-Kind-Vorlese-Abend und einer gemütlichen Advents-Kaffeetafel. Oder gerade noch bei einem der vielen karitativen Märkte, die mit ihrer Ruhe und Einfachheit für sich selbst sprechen – und unsere Sinne schonen.

Anzeige