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Um den Tisch im Gemeinschaftsraum im Senioren- und Pflegezentrum St. Marien in Ahaus ist es auffallend still. Fünf Bewohner sind es, die heute gekommen sind. Sie sind unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher gesundheitlicher Konstitution, haben unterschiedliche Lebensgeschichten. Und genau um die geht es in diesem Augenblick. Sie basteln an einem Lebensbaum aus vielen einzelnen Bildern. Ein Projekt, in das bald alle Bewohner eingebunden werden.
Die Idee des Baums bringt viel Leben mit sich, weiß Petra Kottig, Leiterin des Sozialdienstes im Haus. „Das gemeinsame Malen gibt Raum für Gespräche, die Bilder geben Anlass zu fragen, warum gerade dieses Motiv gewählt wurde, Erinnerungen werden angestoßen.“ Es kommt etwas an die Oberfläche, was sonst nicht auftauchen würde. „Im Leben der alten Menschen hat es viele solcher Momente gegeben – traurige wie schöne.“
Zeit zum Nachdenken
Das beschäftigt sie. Zeit zum Nachdenken gibt es im Alter ausreichend. Die Möglichkeit, die Stationen des eigenen Lebens zur Sprache zu bringen, los zu werden oder gar Frieden mit ihnen zu schließen, brauchen aber einen besonderen Raum. Der Mal-Tisch mit den vielen Blättern, Tuben und Stiften ist so ein.
Dort ist es im Augenblick ungewohnt ruhig. Ein weiterer wichtiger Effekt der gemeinsamen Arbeit, sagt Elisabeth Haase, Betreuungsassistentin und seelsorgliche Begleiterin. „Mit der Konzentration auf ein Blatt, auf eine Linie oder einen Punkt kehrt eine innere Ruhe ein.“ Etwas, das sonst oft fehlt. Es ist eine Stille der Konzentration auf das, was die alten Menschen in diesem Augenblick bewegt.
„Ich bin früher immer auf die Obstbäume auf Nachbars Wiese gestiegen“, sagt Norbert Höping. Er zeichnet gerade rote Äpfel in einen Baum. „Die Blechdosen, mit denen der die Vögel verjagen wollte, haben mich immer geärgert.“ Nach vielen Jahrzehnten ist das die Erinnerung, die in diesem Augenblick für ihn zählt. Schöne Erinnerungen, das zeigt sein Lächeln.
Geruch bringt Erinnerungen
Haase hat weitere Erinnerungshilfen mitgebracht. Vom Spaziergang vor ihrem Dienstantritt liegt ein Bündel Feldblumen auf dem Tisch. „Was ist das für eine Pflanze?“, fragt sie. Die weißen Blüten werden genau unter die Lupe genommen, betastet, an ihnen gerochen. „Kamille“, sind sich alle einig. Nur Änne Büscher nicht: „Das ist keine echte Kamille, sondern Hundskamille, weil die Stängel nicht hohl sind.“
Die 89-Jährige weiß eine Menge über Blumen. „Ich bin doch als Kind jeden Tag eine Stunde vom Bauernhof durch die Natur zur Schule gegangen.“ Die anderen am Tisch blicken sofort auf ähnliche Kinderzeiten zurück. „Wir mussten im Krieg immer Taubnesseln sammeln, um daraus Tee zu machen“, ist eine Erinnerung. Es wird lebhaft diskutiert, bevor wieder geschäftige Stille eintritt.
Erinnerungen und Gefühle
Sehr oft malen die alten Menschen Dinge aus der Natur. Was nicht heißt, dass mit den Motiven immer nur Buntes oder Leichtes verbunden wird. „Vor einer Woche kamen wir irgendwie auf das Thema Abschied“, sagt Petra Kottig. „Einigen haben wir die Schwere des Themas angemerkt, anderen war die Erleichterung anzusehen, endlich mal darüber sprechen zu können.“
Das bistumsweite Projekt „Lebensbaumbotschaften Hochbetagter zum Frieden“, das vom Referat Seniorenseelsorge im Generalvikariat Münster initiiert wurde, hat genau dieses Ziel. Es soll nicht allein um Mal-Stunden gehen, sondern um einen Raum, der sich in der Senioren- und Pflegearbeit öffnen soll. Vom ersten Pinselstrich an geht es um Erinnerungen und Gefühle der alten Menschen, die sie oft tief in sich eingegraben haben.
Frieden spielt eine doppelte Rolle
Der Friede spielt dabei eine doppelte Rolle: Es geht um den Frieden, den sie beim Malen und Sprechen über ihr Leben selbst erfahren können. Und es geht um eine Friedensbotschaft, die sie aus dem Reichtum ihrer Lebensgeschichten für andere formulieren und im Lebensbaum darstellen können. Im Senioren- und Pflegezentrum St. Marien wird das Projekt von einer Künstlerin begleitet. Seinen Platz für den fertigen Baum aus unterschiedlichen Materialien wird dann in der Kapelle des Hauses sein.