Kathrin Pieren arbeitete zuletzt im Jüdischen Museum London - jetzt in Dorsten

Protestantische Schweizerin leitet Jüdisches Museum Westfalen

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„Wie kommt man denn von London nach Dorsten?“ Diese Frage hörte Kathrin Pieren zuletzt oft. Die 52-Jährige leitet seit Sommer 2020 das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten. Zuvor war sie für eine Sammlung im Jüdischen Museum London verantwortlich. Was hat sie vor?

Kathrin Pieren hofft, dass die Ausstellungen, Konzerte und Projekte zum laufenden Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ auch Menschen erreichen, die sich nicht mit jüdischer Geschichte und Gegenwart auskennen und sich vielleicht noch nie dafür interessiert haben.

„Dass einige einen Aha-Moment erleben und sehen, dass es eine jüdische Gegenwart gibt, sie vielfältig ist und nicht einem einfachen Bild entspricht. Dass einige ihre Schwellenängste abbauen können und vielleicht sogar neugierig werden, ihre regionale oder lokale jüdische Geschichte zu entdecken“, das wünscht sich Kathrin Pieren. Und noch etwas: „Natürlich hoffe ich, dass die eine oder der andere auch Vorurteile abbauen kann.“

 

Neues Programm in Arbeit

 

Museum in der Stadtmitte.
Das Museum in Dorsten wurde 1992 von der Ordensfrau Johanna Eichmann mitgegründet. Die Ursulinenschwester leitete das Museum ehrenamtlich bis 2006. | Foto: Johannes Bernard

Seit Sommer 2020 leitet die promovierte Historikerin das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten. Seit 1992 veranschaulicht es in seiner Dauerausstellung und in wechselnden Präsentationen Religion und Kultur des Judentums besonders in Westfalen.

In den Monaten der Corona-Pandemie ist viel Kreativität gefragt. Aber Kathrin Pieren ist optimistisch, das Museum präsent zu halten: „Viele Veranstaltungen sind gecancelt oder online gestellt worden. Aber unser Team arbeitet mit Hochdruck an einem attraktiven Programm für die nächsten Monate“, sagt die 52-Jährige.

 

Schweizerin in England

 

Die gebürtige Schweizerin hat 17 Jahre in Großbritannien gearbeitet, dort über die ersten jüdischen Museen in England promoviert und zuletzt eine Sammlung im Jüdischen Museum London geleitet. Dann erfuhr sie, dass das Jüdische Museum Westfalen eine hauptberufliche Leiterin sucht. Eine Aufgabe, die zuvor nebenamtlich ausgeübt wurde.

„Was ich über das Jüdische Museum Westfalen herausfand, überzeugte mich rasch: Innovative Vermittlungsprogramme, eine zeitgemäße neue Dauerausstellung, die die Geschichte der Jüdinnen und Juden bis in die Gegenwart umfasst, ansprechende Wechselausstellungen und ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm, alles verpackt in einem attraktiven Gebäude. Kurz: ein riesiges Potenzial, eine ideale Aufgabe.“

 

Judentum fasziniert die Protestantin

 

Das Judentum hat die Protestantin früh fasziniert: „Durch die Lektüre über den Holocaust habe ich als Teenager angefangen, mich für jüdisches Leben und jüdische Kultur zu interessieren. Ich habe Literatur von jüdischen Autoren gelesen und besuchte mehrere jüdische Museen“, sagt die Museums-Leiterin. Für ihre Masterarbeit und ihre Promotion habe sie darüber geforscht, wie jüdische Identität in Museen gezeigt wird.

Wie stellen sich Jüdinnen und Juden dar? Wie werden sie von anderen wahrgenommen, in der Presse, in der Literatur? Was gilt wann und wo als jüdisch? Solche Fragen interessieren die Kulturhistorikerin: „Juden werden oft als ‚andere‘ dargestellt, was dann wiederum ‚uns‘ von ihnen abgrenzt und eine Identität verleiht.“ Ein bemerkenswerter Satz.

 

Was ist typisch deutsch, was typisch jüdisch?

 

Kathrin Pieren zeigt Ausstellungsstücke.
Anschaulich erklärt werden im Museum jüdische Feste und Bräuche wie das Pessach, das Fest zum Auszug aus Ägypten. | Foto: Johannes Bernard

Oft seien es Mechanismen des Ausschlusses, die eine Identität definieren. „Das heißt, ich nehme etwas als ‚typisch deutsch‘ wahr, wenn ich mich als Schweizerin davon abgrenzen will. Solche Denkmechanismen sind interessant, und wir müssen uns diese immer wieder vor Augen führen.“

Die Frage nach der Identität einer Kultur schließt die Herausforderung ein, wie ein Museum eine Kultur, eine Religion darstellen kann. Kathrin Pieren: „Die Frage geht im Prinzip weiter und sollte heißen: Wie lässt sich Leben überhaupt in einem Museum darstellen? Denn was ins Museum kommt, ist ein Objekt, es ist etwas Lebloses. Das kommt daher, dass die traditionelle Aufgabe eines Museums ist, Objekte für die Zukunft zu sammeln und zu bewahren. Aber wie gut kann ein Objekt eine Idee eines Glaubens vermitteln? Mit Film und Musik und verschiedenen Zeitzeugnissen kann man versuchen, das Prozesshafte zu vermitteln.“

 

Dinge des Alltags

 

Das Jüdische Museum Westfalen zeige deshalb auch Dinge des gegenwärtigen Alltags und Zeugnisse von Zeitgenossen. „Und wir müssen auch immer wieder betonen, dass längst nicht alle Jüdinnen und Juden streng religiös sind. Viele von ihnen definieren sich kulturell oder ethnisch.“

Kathrin Pieren hat viele Pläne für das Museum. „Wir müssen im Bereich der sozialen Medien noch besser werden“, sagt sie. „Wir bieten Führungen und Workshops an, in denen auch Fragen gestellt und Unsicherheiten geklärt werden können. Das soll in einer Atmosphäre der Offenheit geschehen.“

 

Kulturtage im August

 

Darum hat das Museum zum Beispiel einen Film mit Porträts von jungen Jüdinnen und Juden in Auftrag gegeben, der veranschaulichen soll, „wie divers die jüdische Community in Deutschland ist“, sagt die Museumsleiterin. Sie möchte ein breiteres Publikum ansprechen, das Programm diverser gestalten und die Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinden und lokalen Vereinen stärken.

Mit den Jüdischen Kulturtagen in der zweiten August-Hälfte wollen Kathrin Pieren und das Museums-Team ein jüngeres Publikum ansprechen. „Wir möchten das Jahr 2021, in dem 1700 Jahre jüdisches Leben im Gebiet des heutigen Deutschlands gewürdigt wird, zum Anlass nehmen, die Vielfalt gegenwärtigen jüdischen Kulturschaffens einem breiten Publikum zur Kenntnis zu bringen.“

Neben traditionellen Kunstformen will das Museum auch der jüdischen Populärkultur in Musik, Theater und Film eine Bühne bereiten. „Zum Zuge kommen soll der künstlerische Nachwuchs des jüdischen Kulturlebens in Deutschland.“

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