Impuls des verstorbenen Bischofs

Reinhard Lettmann über die Wiederverzauberung des Alltags

Wesentlich dafür, ob wir im Alltag einen Zauber finden, ist die Einstellung, mit der wir in ihn hineingehen, und die Augen, mit denen wir ihn betrachten.

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Am 16. April 2013 starb Bischof Reinhard Lettmann. Aus dem Jahr 2004 stammen Lettmanns Impulse zum Thema „Wachsam für den Augenblick“.

„Die Wiederverzauberung des Alltags“: Dieses Buch von Thomas Moore, das in englischer Sprache erschienen ist, ist zu einem Bestseller geworden. Wiederverzauberung des Alltags: Welchen Zauber, so könnte man fragen, sollte der Alltag schon haben? Wesentlich dafür, ob wir im Alltag einen Zauber finden, ist die Einstellung, mit der wir in ihn hineingehen, und die Augen, mit denen wir ihn betrachten.

Ein Gebet am Morgen lädt uns ein, Gott zu bitten: „Öffne meine Augen, um deine Wunder im Licht des Tages zu sehen.“ Dieses Gebet hilft uns, den Sinn für das Staunen zu bewahren, wie wunderbar und geheimnisvoll es ist zu leben. Es schärft unsere Aufmerksamkeit für die Größe des Geheimnisses allen Seins, für die Wunder Gottes: für die Schöpfung, für das Leben, für die Menschen und schließlich für das Wunder, das wir selbst sind. Es ist ja nicht fraglos, dass wir leben. Es ist nicht fraglos, dass alles, was ist, überhaupt ist.

 

Der Tag ist nicht alles

 

Wie erleben wir unsere Tage? Sie können uns fordern, beanspruchen und ausfüllen. Sie sind bis zum Rand mit Leben gefüllt. Andere Tage erfahren wir eher als langweilig, banal und leer. Wie immer wir sie erfahren, über all unseren Tagen steht ein Vorbehalt. Er rückt unsere Tage in die angemessene Dimension, den Tag, der uns voll in Anspruch nimmt, so dass wir keine Zeit finden, über ihn hinauszuschauen, und den Tag, der uns in seiner Leere langweilt. Der Tag, wie immer wir ihn erfahren, ist nicht alles und nicht das Letzte. Der Vorbehalt, unter dem unser Tag steht, hat befreiende Kraft und lässt uns den Kopf über den Tag hinaus erheben.

Von diesem Vorbehalt spricht ein Gebet im französischen „Magnificat“: „Wie ein dichter Nebel, der sich allmählich auflöst und einen Gipfel auftauchen lässt, so enthüllt uns dieser Tag ohne Worte den anderen Tag, den wir erkennen. Strahlend unter einer Verheißung zieht dieser Morgen uns schon mit, Bild der Morgendämmerung der Ewigkeit über unserem alltäglichen Weg. Möge Gottes Geist uns lehren, in diesem vorrückenden Tag den Raum zu suchen, in dem unsere Erwartung des Tages Gottes reift, unsere Hoffnung.“

 

Tiefgang

 

Wenn wir mit einer Offenheit für das Geheimnis und das Unsagbare in den Tag hineingehen, bekommt unser Leben Tiefgang und erliegt nicht der Gefahr der Banalisierung, die der Alltag leicht mit sich bringt. Ein Leben ohne Zauber und Geheimnis wird trivial und kann zu geistiger Verkümmerung führen.

Der Bitte am Morgen, dass Gott uns die Augen für seine Wunder öffne, entspricht eine Bitte am Abend: „Schließe meine Augen, um noch einmal deine Wunder zu schauen in diesem Augenblick, da der Tag vergeht.“

„Schließe meine Augen“: Wie beenden wir den Tag? Nehmen wir bis zum letzten Augenblick neue Eindrücke auf, z. B. aus den zahlreichen Programmen des Fernsehens? Oder haben wir die geistige Kraft abzuschalten, ruhig zu werden, die Augen zu schließen, um den Tag noch einmal vor dem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen? Vielleicht erkennen wir im Nachhinein manches Wunder, das wir im Lärm und der Geschäftigkeit des Tages nicht als solches wahrgenommen haben.

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