Impuls des verstorbenen Bischofs

Reinhard Lettmann über mein Geschick in Gottes Hand

An der Kathedrale zu Chartres steht ein Engel, der eine Sonnenuhr in seinen Händen trägt. Der Schatten auf der Sonnenuhr misst die fortschreitende Zeit. Bischof Reinhard Lettmann über unsere Zeit in Gottes Händen.

Anzeige

Am 16. April 2013 starb Bischof Reinhard Lettmann. Aus dem Jahr 2005 stammen Lettmanns Impulse zum Thema „Unsere Zeit und Gottes Ewigkeit“.

Draußen an der Kathedrale zu Chartres steht ein Engel, der eine Sonnenuhr in seinen Händen trägt. Der Schatten auf der Sonnenuhr misst die fortschreitende Zeit, die Folge der Minuten und Stunden, der Tage und Nächte. In dieser Zeit, die nach Stunden und Tagen, nach Monaten und Jahren gemessen wird, verläuft die Zeit unseres Lebens. Unsere Zeit: die Zeit der Jugend, der Hoffnung, der Aufbrüche, die Zeit, da unser Lebensweg sich endlos im Frühlicht zu erstrecken scheint. Die Sonne steigt höher auf dem Lebensbogen, sie misst die Zeit der vollen Kraft, da wir eine Position in Familie, Beruf und Gesellschaft haben und eine Rolle spielen, in der man mit uns rechnet. Der Zeiger eilt weiter auf der Uhr des Lebens. Es kommt die Zeit des Älterwerdens, die Zeit "da der Tag vergeht und die Schatten wachsen" (Hoheslied, 2,17).

 

Von Sternstunden zehren

 

Unaufhörlich rückt die Zeit voran. Unser Leben kennt Zeiten des Strebens, der Freude, des Glücks, Zeiten, da vieles zu gelingen scheint. Es kennt aber auch Zeiten der Sorge, der enttäuschten Hoffnung, der Trauer und der Krankheit. Unser Leben ist geprägt von unvergesslichen Sternstunden, von denen wir noch lange zehren, die weit über den Tag hinaus in das Leben hineinleuchten. Daneben aber steht die lange Reihe der Alltage, deren einer wie der andere ist, da die Zeit fast stillzustehen scheint und doch unmerklich verrinnt. Die Tage und Jahre kommen und gehen. Der Zeiger auf der Lebensuhr rückt unaufhaltsam voran.

In der Rückschau scheint es uns nicht selten, als sei mancher Tag leer geblieben, und als hätten wir viel Zeit verloren. Das kann uns das Herz schwer machen, denn die vergangenen Tage kommen nicht wieder und die Zeit mit ihren Möglichkeiten ist dahin. Doch der Blick auf Gott kann uns die Zuversicht geben, dass unsere Zeit nicht verloren ist, denn Gott hat jeden Augenblick des Lebens in seine Hand genommen.

Ein Gedicht von Rabindranath Tagore bringt diese Zuversicht zum Ausdruck: "Gegrämt habe ich manchen leeren Tag, ich hätte so viel Zeit verloren. Doch sie ist nie verloren, Herr, denn du hast jeden Augenblick in meinem Leben in deine Hand genommen."

 

Gesammelt bei Gott

 

Der Engel an der Kathedrale in Chartres hält die Sonnenuhr in seinen Händen. Er trägt unsere Zeit vor Gott. Der Strom unserer Lebenszeit versickert nicht ins Bodenlose. Die Augenblicke unseres Lebens verwehen nicht im Wind. Unser Leben ist gesammelt bei Gott. In seinen Händen liegt unsere Zeit. Wir können mit dem Psalmisten sprechen: "In deiner Hand liegt mein Geschick" (Ps 31,16).

Unser Leben kennt Zeiten unter der aufgehenden und unter der sinkenden Sonne, Zeiten der Blüte und Zeiten der Ernte, helle und dunkle Tage. Sie alle sind geborgen in Gottes Händen. Gottes Hände sind mächtige Hände. Was in Gottes Händen liegt, ruht in guten Händen: "In deiner Hand liegt mein Geschick."

Anzeige