CDU-Politiker aus Münster zu Bischofsrücktritten und Sexualmoral, Corona und Social Media

Ruprecht Polenz über Krisenkommunikation in Kirche und Politik

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Mit rund 62.000 Followern auf Twitter gehört der Münsteraner CDU-Politiker Ruprecht Polenz (74) zu den "Influencern" seiner Partei. Im Interview geht es um die Missbrauchsaufarbeitung in der Kirche und Defizite in der Corona-Politik - und die Wirkung der Sozialen Medien auf den demokratischen Diskurs.

Herr Polenz, wenn Sie die Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche unter dem Blickwinkel der Kommunikation betrachten - was fällt Ihnen da auf?

Es hat einen enormen Vertrauensschaden gegeben. Das hat die Kirche erkannt. Entscheidend wird sein, dass man ihr in Zukunft kein Organisationsverschulden nachsagen kann.

Wie lässt sich das verhindern?

Indem man wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch Vorkehrungen trifft, die Missbrauch verhindern. Und indem in Zukunft jeder Verdachtsfall von Staatsanwaltschaft und Polizei untersucht wird. Solange der Eindruck fortbesteht "Wenn was kommt, mauscheln die das wieder weg", wird die Kirche auf keinen grünen Zweig kommen.

Wie schwierig das ist, zeigt die Auseinandersetzung mit den Fällen der Vergangenheit.

Derzeit steht im Vordergrund, wie man mit den Missbrauchsopfern umgeht und wie diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die sich schuldig gemacht haben. Wenn die Kirche aber das Vertrauen der Menschen neu gewinnen will, dann muss sie ihnen das Gefühl geben: So etwas kann sich im Grunde nicht mehr wiederholen. Damit wären wir bei der Frage angelangt: Warum und wie konnte das passieren? Die Antworten haben mit der Sexualmoral zu tun, mit dem Zölibat und den innerkirchlichen Strukturen.

In Sportvereinen oder in Familien gibt es all das nicht, trotzdem geschieht dort Missbrauch.

Die Kirche kann aber nicht ignorieren, dass die Öffentlichkeit eine Verbindung zum kirchlichen Umgang mit dem Thema Sexualität herstellt. Damit muss sie sich auseinandersetzen.

Die Bischöfen werden Ihnen entgegnen, dass sie genau das schon seit längerem tun.

Mein Eindruck ist: Die Kirche hat sich in ihrem ganzen Verständnis von Sexualmoral sehr weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt und sich in ein Gebäude zurückgezogen, das immer weniger von ihnen betreten wollen. Das fördert Verkrampfung und Verdruckstheit.

Wie kann Kirche Verantwortung für organisatorisches und menschliches Fehlverhalten beim Umgang mit Missbrauchsfällen übernehmen? Können Rücktritte von Bischöfen Signalcharakter haben?

Ich hielte es zumindest für fragwürdig, wenn die Kirche sagen würde: Ab einem bestimmten "Dienstgrad" kommt ein Rücktritt nicht infrage.

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat einen solchen Schritt für sich unter anderem mit den Worten abgelehnt, ein Rücktritt wäre lediglich "ein Symbol, das nur für eine kurze Zeit hält".

Dieser Satz hat mich schon sehr verwundert. Wenn eine Organisation mit Symbolen umgeht, dann ist das die Kirche. Jeder Gottesdienstes beweist das. Eine Nicht-Handlung damit zu begründen, dass diese ja nur ein Symbol sei, geht an der Problematik vorbei - mal unabhängig von der Frage, ob der Kardinal hätte zurücktreten sollen oder nicht.

Eine symbolische Geste auf politischer Ebene haben wir unlängst mit dem staatlichen Gedenken an die Corona-Toten erlebt. Im Alltag wachsen dagegen die Schwierigkeiten, die Bürger zum Mitmachen im Kampf gegen die Pandemie zu bewegen.

Die Politik muss die Bevölkerung dazu bringen, ihr Verhalten so zu ändern, dass Ansteckungen vermieden werden. Dieses Ziel aber wirkt fundamentalen Bedürfnissen der Menschen diametral entgegen. Wir suchen Nähe, auch physische - und genau das ist jetzt nicht nur unerwünscht. Es ist sogar gefährlich.

Was also tun?

In einer offenen Gesellschaft helfen nur Einsicht und Regeln, die verstanden und akzeptiert werden. Die Vorschrift "Du sollst nicht stehlen" ist nicht nur eines der Zehn Gebote, sondern auch im Strafgesetzbuch normiert. Wir können mit Appellen das Strafgesetzbuch nicht ersetzen, aber das Strafgesetzbuch allein wäre auch nicht ausreichend, wenn die Norm nicht gesellschaftlich akzeptiert wäre.

In der Theorie klingt das einfach - aber in der Corona-Pandemie schlagen wir uns nun schon über ein Jahr mit ständig wechselnden Bestimmungen herum, die sich dazu noch von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Zerlegt sich das föderale System gerade selbst?

Wir alle lernen während dieser Pandemie dazu. Das Bundesseuchengesetz - jetzt Bundesinfektionsschutzgesetz -  konnte sich keine weltweite, nicht einmal eine nationale Pandemie vorstellen. Es ging von lokal begrenzten Seuchen aus. Das Prinzip lautete daher: Wenn ein Bundesland nicht mehr weiter kommt, dann kann es den Bund um Hilfe bitten. Deswegen liegt die Zuständigkeit im Kampf gegen die Pandemie vor Ort, bei den Kreisen und Ländern. Das soll sich ja jetzt ändern. Trotzdem plädiere ich dafür, Spielräume zu erhalten.

Warum?

Mit einer zu großen Regelungsdichte ist eine Gefahr verbunden. Wenn ich das Gefühl habe, alles, was zu tun ist, schreibt der Staat mir vor, alles andere kann ich machen, schaltet meine eigene "Pandemie-Vernunft" ab. Als im März die Reisewarnung für Mallorca aufgehoben wurde, war das für viele Bürger ein Signal: Nichts wie hin. Die normale Abwägung wäre ja gewesen: Ist es vernünftig, sich jetzt ins Flugzeug zu setzen?

Vielleicht würde es schon helfen, noch konsequenter auf den Rat der Wissenschaftler zu hören.

Wenn ich alles durchsetze, was wissenschaftlich geboten scheint, könnte die Akzeptanz in der Bevölkerung sinken und die Summe der Vermeidungshandlungen größer werden. Außerdem gilt es, weitere Abwägungen zu berücksichtigen. Wie immer in der Politik gibt es einen langen Beipackzettel. Und aktuell kommt noch ein Faktor hinzu, der dem Kampf gegen die Pandemie sicher nicht gutgetan hat: Wir sind in einem Superwahljahr.

Ist aber die Sache nicht vorher schon kommunikativ aus dem Ruder gelaufen? Im Herbst hieß es, wir müssen noch einmal Einschränkungen hinnehmen, um Weihnachten feiern zu können, kurz vor Weihnachten riefen die Politiker dazu auf, weiter durchzuhalten und vor Ostern lautete die Ansage, wir befänden uns auf den letzten Metern eines Marathonlaufs.

Die Einsicht, dass es eines langen Atems bedarf, ist erst Schritt für Schritt gekommen. Im vergangenen Jahr herrschte lange der Eindruck vor: Nach den Sommerferien geht es normal weiter. Da hätte man es schon besser wissen müssen. Die daraus resultierenden Versäumnisse führen zu einer immer gereizteren Stimmung.

Zu Beginn der Pandemie machten uns manche Politiker weiß, Masken böten keinen Schutz vor einer Ansteckung mit Corona. Offenbar gab es damals zu wenig Masken - und die sollten dem Personal in den Krankenhäusern und in der Pflege zur Verfügung stehen. Sind solche "Notlügen" statthaft?

Es gibt Situationen, aus denen Sie nicht heil herauskommen. Was wäre denn die Alternative gewesen? Den Menschen zu sagen, dass Masken Schutz bieten, wir aber im Augenblick zu wenig davon haben, weswegen sie die wenigen Masken bitte denen überlassen, die sie dringend benötigen. Hätte das funktioniert? Da kann man mindestens begründete Zweifel haben.

Eine Frage noch an den Twitterer Ruprecht Polenz: Welche Wirkungen haben die Sozialen Medien auf die Politik?

Man kann durchaus zu der These kommen, dass die Mechanismen der Sozialen Medien eine zerstörerische Wirkung auf unsere Demokratie haben. Ihr Geschäftsmodell basiert darauf, dass Nutzer länger auf den Plattformen verweilen, wenn ihnen schrille oder ihre Meinung bestätigende Nachrichten geboten werden. Auf der anderen Seite lassen sich auch positive Wirkungen etwa beim Arabischen Frühling beobachten.

Wo sehen Sie Gefahren?

Die Möglichkeiten der Desinformation sind gigantisch. Wollte ich heute ein anderes Land unter meine Kontrolle bringen, würde ich nicht mehr in Panzer investieren, sondern in Akteure in den Sozialen Medien. Wir diskutieren darüber, dass Computer bei Cyber-Angriffen geknackt werden. Viel mehr müsste uns beunruhigen, dass unsere Gehirne geknackt werden könnten.

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